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Manuel Kuster

Apokalypse?

Portugal, das Land, in dem ich lebe, ist jüngst in die Schlagzeilen der deutschsprachigen Medienlandschaft geraten. Auch im Zusammenhang mit der Schweiz.

Manuel Kuster am 04. Februar 2021

Eine Ehre, wie dies letztmals beim Erringen des Europameistertitels im Fussball der Fall gewesen war, ist es diesmal freilich nicht. Aber wie fühlt es sich an, mitten im aktuellen europäischen Corona-Hotspot die Gesundheits-Apokalypse live mitzuerleben? Der Versuch einer Einordnung.

Die spontane aber auch ehrlichste Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet schlicht: Ich weiss es nicht. Meine Frau und ich leben auf dem Land, in der zentralportugiesischen Region Beira Baixa, und die sich vor kollabierenden Spitälern stauenden Ambulanzen befinden sich zweieinhalb Fahrstunden weit weg in der Hauptstadt. Näher dran zwar als die meisten Journalisten, die unter grosse Schlagzeilen nur kleine, anekdotische und immer neu kopierte Inhalte setzen, aber doch zu weit weg von Lissabon, um mir selbst ein Bild der Lage machen zu können.

Dass es die Staus vor den Notaufnahmen - oder zumindest vor jener des Spitals «Hospital de Santa Maria» - gibt, daran zweifle ich nicht. Aber sind sie tatsächlich entstanden, weil hunderte Leute gleichzeitig um ihr Leben ringend in das nächstgelegene Spital eingeliefert werden müssen?

Ein Drittel der Fälle nicht dringend

Als umgehende Antwort der Gesundheitsbehörden wurde eine Vorsortierung bezüglich der Dringlichkeit der Notfälle eingeführt. …Pré-Triagem» (Vor-Triage) wurde das Verfahren getauft, eine im besten Falle unglücklich gewählte Begrifflichkeit, erinnert sie doch an das, wovor seit Monaten immer wieder gewarnt wird, nämlich dass im Falle einer Überlastung des Gesundheitssystems die Ärzte entscheiden müssen, welcher Patient behandelt wird und welchen man sterben lassen muss.

Am 1. Februar teilte António Táboas, Sprecher der zuständigen Organisation «Centros de Orientação de Doentes Urgentes» (CODU) der portugiesischen Nachrichtenagentur Lusa mit, dass von 64 innert drei Tagen evaluierten Personen 32% weniger schwere Fälle waren. Sechs davon wurden nach Hause geschickt und 4 an ambulante Gesundheitszentren (centros de saúde) verwiesen.

Jetzt sind 64 Notfalltransporte innert 72 Stunden nicht gerade stauverdächtig, möchte man meinen. Fairerweise muss aber angeführt werden, dass darin nicht ganz alle Ankömmlinge der Notaufnahme mitgezählt worden sind. Gemäss António Táboas «werden nur Patienten beurteilt, die mit einem von der CODU weitergeleiteten Krankenwagen ankommen, Krankenwagen, die Patienten von anderen Gesundheitseinrichtungen, wie z. B. Privatkliniken, transportieren, und Personen, die auf eigene Faust mit dem Krankenwagen gekommen sind.»

Was da noch an signifikanter Zahl übrig bleibt? Ich weiss es nicht.

Eine weitere Spekulation erlaube ich mir: Der deutliche Anteil der nichtschweren Fälle, welche die Notaufnahmen belasten, ist eine direkte Folge der medial geschürten Angst. So gibt es Menschen mit geringfügigen Erkältungssymptomen, welche gleich den Notfall aufsuchen oder die Ambulanz rufen, weil sie bei kleinsten Atembeschwerden sofort den schrecklichen Verdacht auf Corona vermuten.

Europäische Solidarität

Doch nicht nur schockierende Bilder aus Portugal wurden europaweit in die Zeitungen und auf die Bildschirme gestreut, sondern auch beängstigende Zahlen. Am 30. Januar teilten diverse deutschsprachige Nachrichtenformate die Meldung von Reuters, Portugal habe nur noch sieben freie Intensivbetten. Mit Verweis auf das portugiesische Gesundheitsministerium berichtet die US-Nachrichtenagentur tatsächlich, dass 843 von 850 Plätzen an diesem Tag belegt waren. Und die aktuellen Fallzahlen lassen keine Hoffnung auf rasche Entspannung zu. Das Szenario der «echten» Triage scheint dramatisch nah, Apokalypse in Portugal, hier und jetzt.

Nur noch der beispiellose Akt europäischer Solidarität in Person des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz kann den drohenden Kollaps noch abwenden. Kurz zeigt sich kurzentschlossen bereit, portugiesische Patienten in «seinen» Krankenhäusern unterzubringen. Gleichzeitig sollen ausländische Fachkräfte in Portugal das überlastete Spitalpersonal verstärken. Und nun zeigt sich gemäss «Blick» auch die Schweiz bereit, Intensivpatienten aus Portugal aufzunehmen, sobald die offizielle Anfrage vorliegen würde. Alleine, so scheint es, kann das kleine, von der Geschichte gebeutelte Land im äussersten Westen Europas die Katastrophe nicht mehr abwenden.

So klein ist Portugal aber gar nicht, immerhin zählt es aktuell rund zehn Millionen Einwohner und ist damit bevölkerungsreicher als Österreich oder die Schweiz. Und es mag zwar in seiner Geschichte immer wieder von Krisen gebeutelt worden sein, dennoch wird der EU-Staat wohlkaum lediglich über 850 Intensivbetten für zehn Millionen Portugiesen (und Einwanderer) verfügen. Tatsächlich ist in den erwähnten Berichten (fast) immer auch zu lesen, dass es neben den Intensivbetten für Covid-Patienten noch 420 weitere solche gibt, welche für Patienten mit anderen Leiden reserviert sind und über deren Auslaustung keine Angaben vorliegen.

Warum in die Ferne schweifen?

Das mag seine Gründe haben, doch entsteht durch diesen Umstand auch eine Problematik der statistischen Vergleichbarkeit. Ich verfolge ja auch das Geschehen in anderen Ländern, darunter natürlich mein Heimatland Schweiz. Dort wird jeweils die gesamte Auslastung der Intensivplätze angegeben (aktuell ca. 74%). In Portugal ist die gesamte Anzahl Intensivbetten schwer zu ermitteln, da sie ziemlich volatil zu sein scheint. Wir können uns also nur auf die Covid-Betten konzentrieren, die gemäss den Zahlen von Reuters zu erschreckenden 99% belegt sein müssten.

João Gouveia, der Präsident der Portugiesischen Gesellschaft für Intensivmedizin und Leiter der Kommission zur Überwachung der nationalen Reaktion in der Intensivmedizin (CARMNI) spricht indes von 92% Auslastung, wie der portugiesische Sender TVi24 gleichentags berichtete. Von TVI24 kontaktiert, dementierte das Gesundheitsministerium die Zahlen der US-Agentur Reuters mit dem Hinweis, es handle sich «um eine Interpretation ohne Bezug zur Realität». João Gouveia warnt dennoch, «dass dies ein schwieriges Szenario ist, wenn die Zahl der Krankenhauseinweisungen ähnlich bleibt wie in den letzten Wochen.»

Aber man darf sich darüber hinaus auch fragen, ob es unter den gegebenen Umständen wirklich mehr Sinn macht, Patienten, die Intensivmedizinische Betreuung benötigen, von einem Ende des Kontinents zum anderen zu fliegen, anstatt ein paar der freien inländischen Betten «covid-tauglich» zu machen und/oder Patienten ins Nachbarland Spanien zu verlegen, wo die Auslastung der Intensivstationen landesweit derzeit 44% beträgt (gemäss den Zahlen des spanischen Gesundheitsministeriums). Wie gesagt: Ich weiss es nicht. Aber es verwundert mich.

Dieses Gefühl teilen indes auch viele Schweizerinnen und Schweizer, welche von den Behörden erst kürzlich darüber informiert wurden, dass, trotz rückläufiger Fallzahlen, die Situation in den Spitälern nach wie vor angespannt sei. Ebenso ergeht es zahlreichen Österreicherinnen und Österreichern. Sie üben ebenfalls Freiheitsverzicht seit vielen Wochen, gar Demonstrationen werden mit Hinweis auf das Infektionsgeschehen verboten. Nun soll es - Solidarität hin oder her - Platz für ausländische Patienten geben?

Fakt am Rande (zum selber einordnen): Die Auslastung der Intensivstationen in Österreich liegt aktuell bei 32,2%.

Die unperfekte Welle

Kanzler Kurz dürfte vor diesem Hintergrund weitaus grössere Probleme haben, seinem Volk weiterhin strenge Restriktionen aufzuerlegen als dies für den portugiesischen Ministerpräsidenten Antonio Costa der Fall sein wird. Dieser kann aufgrund der anhaltend hohen Zahlen seinen Kurs (nicht seinen Kurz) weiterfahren und wohl schier beliebig verschärfen. Ob dies den Ausschlag geben wird, dass die Zahlen bald sinken, ist fraglich. Denn weiterhin wird darüber gestritten, wie es zu dieser zweiten Welle kommen konnte. Waren es die Mutanten? Oder, wie Costa persönlich zu präferieren scheint, waren es die Portugiesen selbst, die sich über die Festtage nicht ordentlich verhalten haben?

Letzteres kann ich mir kaum vorstellen, da der strenge Lockdown mit Ausgangsbeschränkungen lediglich für Weihnachten kurz gelockert wurde und sich die Portugiesen meiner persönlichen Erfahrung nach eher vorauseilend gehorsam gezeigt hatten. Auch die «Welle» selbst hat einen Makel: Sie kam zu schnell. Denn von einem Tag auf den nächsten hatten sich Anfang Januar die Fallzahlen verdoppelt, dazu gleichzeitig (!) jene der Todesfälle - und mit Tagesvorsprung auch die Anzahl durchgeführter Tests.

Wenn man sich also des Narrativs bemüht, dass in der Regel nur symptomatische Personen getestet werden, hiesse das entsprechend, dass von einem Tag auf den anderen plötzlich doppelt so viele Menschen krank geworden sind und sich testen liessen. Und weiter bedeutet es, dass das Sterben unmittelbar parallel zum Erkranken zugenommen hat - und nicht erst einige Wochen später.

Ich kann mir das beim besten Willen nicht mit den mir mittlerweile einigermassen vertrauten Gesetzen der Epidemiologie erklären. Weder mit Mutanten noch dem weihnächtlichen Besuch bei Onkeln und Tanten. Vielleicht kann das ja jemand, der diese Zeilen liest. Bis dahin werde ich mich wohl damit abfinden müssen, es nicht zu wissen.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Manuel Kuster

Manuel Kuster stammt aus der Ostschweiz und lebt seit 2013 in Portugal. Er pflegt zusammen mit seiner Gefährtin Andrea einen kleinen Bauernhof – die Quinta das Figueiras. Auf der Webseite www.quintadasfigueiras.ch schreibt er in unregelmässigen Abständen über das Leben im selbsterwählten Exil und die ideologischen Hintergründe dazu sowie zuweilen auch über gesellschaftspolitische Themen

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