logo

Gottlieb F. Höpli

Dialekt des Grauens

Die Zürcher Medien finden neuerdings Gefallen, an der Ostschweiz herumzumäkeln.

Gottlieb F. Höpli am 09. März 2023

Nachdem die NZZ die dunkeln Seiten von Helvetiens – sonst meist übersehenem – Osten ausgiebig beleuchtet hat (siehe unser Beitrag vom 15.Februar), nimmt sich nun auch der Tages-Anzeiger des östlichen Landesteils an. Mit einem ziemlich unoriginellen, aber dafür umso reisserischeren Artikel «Dialekt des Grauens». Gemeint ist der Thurgauer Dialekt. Dieser sei nämlich in der Schweiz der unbeliebteste von allen. Dass er auch der verständlichste und mit den Sprachen unserer Nachbarländer kompatibelste ist, scheint in Zürich nicht so wichtig – da hat man es nicht nötig, über den eigenen Bauchnabel hinauszublicken.

Helle Vokale und Zäpfchen-R

Was wird dem Thurgauer Dialekt vorgeworfen? Seine hellen Vokale, vor allem das A, ganz im Gegensatz zu den dumpfen Tönen weiter im Landesinneren, vor allem in Zürich oder Bern. Die fallen zwar in St.Gallen noch etwas spitzer aus, aber derlei Feinheiten wollen wir den Amateur-Linguisten vom Tages-Anzeiger nicht ankreiden. Sie kennen sich wohl einfach zu wenig aus in der Ostschweiz. Was den Thurgauer Dialekt ferner charakterisiert, ist das weit hinten im Hals gesprochene «Zäpfchen-R», das man im Gegensatz zum gerollten R der meisten Schweizer Dialekte manchmal kaum hört («Thuogau»). Natürlich könnte man hier auf die Innerrhoder verweisen, die das R in den meisten Fällen schon gar nicht aussprechen («Jo geen» für «Ja gerne»). Aber das müsste man natürlich erst mal wissen.

Trudi Gerster und Ines Torelli kamen aus St.Gallen

Als Thurgauer gestehe ich: Die spitzen Vokale in den einst schweizweit bekannten Märli-Aufnahmen von Trudi Gerster oder die komödiantische Zuspitzung von Ines Torellis Cabaret-Songs («D’Subale vo Sanggale») liessen auch mich sanft erschauern. Nur waren beide eben, Gerster und Torelli, Sanktgallerinnen, die so redeten. Bewusst übertrieben und schrill. Ein Besuch im einstigen In-Café «Seeger» bestätigte allerdings, dass die reifere Weiblichkeit der Stadt St.Gallen oft ebenfalls ziemlich schrill zu kommunizieren pflegte. Aber von Zürich aus sind Thurgau und St.Gallen ja wohl Hans was Heiri. Hauptsache: Lustig auf Kosten anderer. Und man könnte sich trösten: Nächstesmal sind wieder die Aargauer dran.

In Wahrheit der verständlichste von allen!

Man könnte aber auch anderes über den Thurgauer Dialekt hervorheben: Dass er im Vergleich mit allen anderen Schweizer Dialekten der wohl verständlichste ist (zusammen mit den anderen Ostschweizer Idiomen). Und auch in unseren Nachbarländern mit seinen klare Vokalen (Italien, Frankreich) und seinem diskreten Binnen-R («Herbst», «Vortritt», «Thurgau») auch im hochdeutschen Sprachraum besser, weltläufiger ankommt als die dumpferen Mundart-Töne westlich von Winterthur – das Stadtbaslerische vielleicht ausgenommen. Was eigentlich alles nicht weiter erstaunt, denn auf der Europa-Karte liegt der Bodensee-Raum keineswegs an der Peripherie des Kontinents, sondern im Zentrum. Von wo aus nach allen Seiten eben auch verständlich, sprach- verwandtschaftlich kommuniziert wird.

Das wäre natürlich auch eine Betrachtungsweise. Aber so etwas geht natürlich nicht: Dann wäre Zürich ja nicht mehr der Nabel der Schweiz. Und wie für jedes von sich eingenommene Bünzlitum ist eine solche Vorstellung ganz einfach undenkbar. Nicht von dieser Welt. Die bekanntlich östlich von Winterthur aufhört.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Gottlieb F. Höpli

Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.

1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.