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Urs Tobler

Im Zirkus

Lisa Walsers Gedichte über Lehrerinnen und Lehrer, die auf dieostschweiz.ch publiziert worden sind, haben in den Schulhäusern der Region einige Wellen geworfen.

Urs Tobler am 11. November 2020

Eine Antwort auf die Lehrer-/ Lehrerinnengedichte von Lisa Walser zu geben, ist nicht einfach: Empört man sich (als Direktbetroffener) zu sehr, gerät man unwillkürlich in den Verdacht, ein «Öder» zu sein, einer, der eben keinen Humor versteht, und der exakt jenen archetypischen Exemplaren entspricht, welche Lisa Walser in ihren Gedichten zeichnet.

Lässt man andererseits diese aufmerksamkeitsheischenden (auf altbackenen Klischees basierenden) Verse unbeantwortet, könnte man einer stillschweigenden Akzeptanz bezichtigt werden: Muss einer, der zu den Gedichten schweigt, sie nicht insgeheim gutheissen?

Lisa Walsers Gedichte haben in den Schulhäusern der Region einige Wellen geworfen. Dies ist der Versuch einer Einordnung.

Zuerst einmal dies: JA, wer diese Verse liest, darf lachen! Und JA, wer diese Verse liest, darf sich andererseits auch massvoll empören! Doch was genau versetzt das Lehrer(innen)blut in Wallung? Die Qualität kann es nicht sein; ansonsten würden Formate wie «Germany’s Next Topmodel» oder «The Bachelorette» die Leute nicht vor den Fernseher, sondern wutentbrannt auf die Strasse treiben. Wenn sich «niessen» auf «beschissen» reimt, wird klar, dass Lisa Walsers Gedichte der «Slam Poetry» entlehnt sind, wo das «klanglich Ungefähre» als «schmutziger Reim» bezeichnet wird. Auch die Archetypisierung von Menschen ist eine traditionelle Form, sich lustig zu machen. So kannte bereits die Volksbühne der Commedia dell’arte im 17. Jahrhundert «den Dummen», «den Eingebildeten», «den Nachäffer», «den Angeber» usw., wissend, dass sich in jedem Menschen die entsprechenden charakterlichen Splitter finden lassen. Das Problematische an Lisa Walsers Gedichten ist nicht die Überzeichnung negativer Charaktere, sondern dass sie diese ausschliesslich an dem Berufsstand der Lehrpersonen festmacht! Ja, es gibt ihn: «den Öden», «den Drillmaster», «den Kindskopf». Ja, es gibt «Mrs. Histery» und «Frau Wichtigtuerin». Doch es gibt sie überall, bei den Polizisten, bei den Managerinnen, bei den Bäckerinnen, bei den Künstlern, bei den Hundefriseurinnen...

Wer also Lisa Walsers Gedichte lustig findet, lacht über den Menschen an sich – über den Menschen als mängelbehaftete Existenz. Wer Lisa Walsers Gedichte lustig findet, lacht über sich selbst! Der «Dumme August» im Zirkus zeigt uns dies in aller Deutlichkeit. Er scheitert bereits bei dem Versuch, den vom Kopf gefallenen Hut vom Boden aufzuheben, denn immer, wenn er gerade zupacken möchte, stösst er ihn (wie ungeschickt) mit dem Fuss von sich...

Der Mensch ist ein prekäres Wesen, das die Fähigkeit besitzt, sich wie ein Luftakrobat in höchste Sphären zu schwingen, das aber auch, wie «der Dumme August», am Geringsten scheitern kann: Er kann in seinem Beruf als Lehrer oder Lehrerin scheitern, als Sprachakrobatin oder (wie Lisa Walser gezeigt hat) beim Versuch, sich auf diese menschliche Existenz einen Reim zu machen!

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Urs Tobler

Urs Tobler ist Vorstandsmitglied des KLV (Kantonaler Lehrerverband) der Sektion Gossau. Er ist Primarlehrer und wohnt in St.Gallen.

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