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Sexuelle Orientierung und Gleichberechtigung

«Die Ablehnung hat meist mit Unwissen und Unsicherheit zu tun»

Es ist ein Podium der anderen Art: National- und Ständeratskandidaten nehmen in Wil und Frauenfeld Stellung zur Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen. Ein Gespräch darüber, wie es dazu kam - und welche Hoffnungen die Veranstalter haben.

Stefan Millius am 12. September 2019

Organisiert werden die Podien in Wil und Frauenfeld vom «Network Gay Leadership», geladen sind jeweils fünf Kandidatinnen und Kandidaten der Nationalratswahl aus beiden Regionen. Die Informationen zum ersten Anlass mit der Anmeldemöglichkeit finden Sie hier.

Michael Lindenmann, Leiter der Network-Regionalgruppe Ostschweiz, im Gespräch.

Sie führen zwei öffentliche Podien zur Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen durch, und das mit Blick auf die eidgenössischen Wahlen am 20. Oktober. Warum ist dieses Thema gerade zu diesem Zeitpunkt wichtig?

Michael Lindenmann: Auch wenn Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle (LGBTI = Lesbian, Gay, Bi-, Tans-, Intersexual) in vielen Bereichen schon in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, ist eine komplette Gleichstellung noch nicht erreicht. Die Ehe für alle ist hierfür ein Beispiel. So können gleichgeschlechtliche Paare zurzeit noch keine Zivilehe eingehen. Ebenso ist ihnen der Zugang zum Adoptionsverfahren wie auch zur Fortpflanzungsmedizin verwehrt. Auch wenn die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden die Kernvorlage zur parlamentarischen Initiative «Ehe für alle» ausdrücklich begrüsst und die Rechtskommission des Nationalrats am 30. August 2019 in der Gesamtabstimmung den überarbeiteten Entwurf angenommen hat, ist die Vorlage noch lange nicht im Trockenen. Zumal LGBTI sich bei einer Wiederholung der Abstimmung zur CVP-Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» damit konfrontiert sähen, dass die Ehe auf Verfassungsstufe als auf die Dauer angelegte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau definiert werden könnte.

Wie geht es in dieser Frage weiter?

Michael Lindenmann: Der Bundesrat muss spätestens am 27. Mai 2020 die Wiederholung der Abstimmung ansetzen, wenn die Volksinitiative bis dahin nicht zurückgezogen wird. Das Thema Gleichberechtigung von LGBTI ist weiter wichtig, weil voraussichtlich am 9. Februar 2020 über ein Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung abgestimmt wird. Dies, nachdem gegen den Beschluss der Bundesversammlung vom 14. Dezember 2018, neu auch Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung unter Strafe zu stellen, das Referendum ergriffen wurde und dieses erfolgreich zustande gekommen ist. Entsprechend liegt im nächsten Jahr viel Arbeit vor der LGBTI-Community.

Im Zentrum der Podien steht die Frage, wo wir heute bezüglich Gleichberechtigung stehen. Wie sieht Ihre persönliche Antwort aus?

Michael Lindenmann: Glücklicherweise ist mein Coming-out bei Familie, bei Freunden, Schulkolleginnen und -kollegen und bei meinen «Farbenbrüdern» aus der Studentenverbindung sehr gut verlaufen und stellte von Beginn weg kein Problem dar. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass dies noch immer nicht in allen Gesellschaftsschichten und Kulturkreisen der Normalfall ist. Nicht umsonst zählen «schwul» und entsprechende Wortkombinationen an Schweizer Schulen noch immer zu den am häufigsten verwendeten Schimpfwörtern. Zudem ist die Suizidrate unter homo-, bi-, trans- und intersexuellen Jugendlichen gegenüber ihren heterosexuellen Altersgenossinnen und -genossen noch immer deutlich höher.

Aber das Thema der sexuellen Ausrichtung scheint in den Medien allgegenwärtig und wird dort offen diskutiert – was früher so kaum möglich gewesen wäre. Ist das nicht ein Beleg dafür, dass Menschen mit anderer sexuellen Ausrichtung in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind?

Michael Lindenmann: Geht es um die Gleichberechtigung von LGBTI stelle ich fest, dass sich nur noch wenige getrauen, sich in der Öffentlichkeit gegenüber sexuellen Minderheiten negativ zu äussern. Hinter vorgehaltener Hand – so habe ich es zumindest schon erlebt – findet dies allerdings noch immer statt. Dies hängt meiner Meinung nach aber weniger mit einer grundlegenden Ablehnung gegenüber LGBTI zusammen, als vielmehr mit Unwissen und Unsicherheit. Wenn Menschen plötzlich feststellen, dass ihr langjähriger, guter Nachbar schwul ist, überrascht sie das vielleicht im ersten Moment, dann hat sich die Sache aber bald erledigt.

Sie begrüssen bei den Podien eine Reihe von Nationalratskandidaten. Nach welchen Gesichtspunkten wurden diese ausgesucht?

Michael Lindenmann: Als ein grosser Freund demokratischer Debattenkultur sollten meiner Meinung nach möglichst alle Parteien auf einem der Podien vertreten sein. Entsprechend wurden auch alle angeschrieben. Dass sowohl die St.Galler wie auch die Thurgauer SVP keine Vertreterin respektive keinen Vertreter aufbieten konnte oder wollte, hat mich schon ein wenig erstaunt. Zumal die SVP als Volkspartei wahrgenommen werden möchte und mit der Ehe für alle sowie dem Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung Vorlagen aufs Tapet gelangen, die die SVP eigentlich interessierten müssten. Bei der Auswahl der Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer wurde zudem Wert darauf gelegt, keine bisherigen Nationalrätinnen und -räte aufzubieten, sollte doch «neuen» Kandidatinnen und Kandidaten die Möglichkeit geboten werden, sich im Rahmen einer Diskussion über Gleichberechtigung von LGBTI zu positionieren.

Vereinzelte Podienteilnehmer sind nicht für eine ausgesprochene Offenheit zum Thema bekannt, andere hingegen sehr. Erhoffen Sie sich bewusst eine Kontroverse? Mit welchem Ziel?

Michael Lindenmann: Unterschiedliche Meinungen stärken meiner Meinung nach eine Demokratie, zumindest solange sie sich im rechtsstaatlichen Rahmen bewegen. Entsprechend habe ich mich ausserordentlich über die Zusagen von Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Meinungen gefreut. Ich lasse mich überraschen, ob es zu einer Kontroverse kommen wird oder nicht. Mir persönlich ist eine hitzige Diskussion zumindest lieber als eine Veranstaltung, an welcher sich alle einig sind und sich zum Schluss auf die Schulter klopfen. Das ist keine Debatte!

Welche Art Publikum erwarten Sie? Sind Ihre Anliegen auch eines in der breiten Bevölkerung?

Michael Lindenmann: Ich hoffe natürlich, ein möglichst vielfältiges Publikum vorzufinden. Gemäss meinem Kenntnisstand haben die Parteien der Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer ihre Mitglieder entsprechend auf die Veranstaltungen aufmerksam gemacht. Auch die Teilnehmerinnen und -teilnehmer haben den Anlass in ihrem Umfeld beworben. Meinerseits wurden die durchaus zahlreichen LGBTI-Organisationen auf die Podien aufmerksam gemacht. Was die Wahrnehmung von LGBTI-Anliegen bei der breiten Bevölkerung anbelangt, habe ich festgestellt, dass Veranstaltungen wie die jährlich in Zürich stattfindende Zurich Pride von vielen Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen, ja sogar als Samstagsausflug besucht wird. Geht es um politische Vorlagen wie die Ehe für alle oder das Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung, stelle ich ein etwa ähnliches Desinteresse wie bei anderen politischen Sachverhalten fest. So war ich letzthin ziemlich überrascht, als mir jemand im Rahmen einer Diskussion über LGBTI sagte, er sei der Auffassung gewesen, dass die Ehe für alle inklusive Zugang zum Adoptionsverfahren in der Schweiz schon gar kein Thema mehr sei. Es gilt entsprechend nach wie vor Aufklärungsarbeit zu leisten.

Veranstalterin ist die Regionalgruppe Ostschweiz von «Network Gay Leadership», einem Verbund schwuler Führungskräfte, Freiberufler und anderer. Was steckt dahinter, welche Mission hat Network?

Michael Lindenmann: Vor 50 Jahren, genauer am 28. Juni 1969, wehrten sich Schwule gegen eine Razzia in einer New Yorker Bar an der Christopher Street und wurden so erstmals von einer breiten Öffentlichkeit als Gruppe wahrgenommen. Auch in der Schweiz hatte dies über kurz oder lang Auswirkungen. So wurde mit der Revision des Schweizerischen Strafgesetzbuches 1992 und der Einführung des Partnerschaftsgesetzes 2005 eine bessere rechtliche Stellung von LGBTI erreicht. Ein Coming-out am Arbeitsplatz ist nach wie vor aber noch nicht selbstverständlich, insbesondere bei Führungspersonen. So ist die Quote offen schwuler Männer in Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten börsenkotierter Unternehmen noch immer sehr tief. Als Zusammenschluss schwuler Führungskräfte, Freiberufler, Künstler und Studenten will Network diesem Umstand entgegenwirken.

Und wie tun Sie das?

Michael Lindenmann: Unsere Mitglieder wollen eine Vorbildfunktion einnehmen und junge Menschen dazu ermutigen, auch am Arbeitsplatz einen selbstbestimmten, offenen Umgang mit ihrer Identität zu pflegen. Entsprechend engagiert sich Network zusammen mit Partnerorganisationen nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in Politik und Kultur. Der Verein verfügt über Regionalgruppen in Basel, Bern, Genf, Lausanne, Zürich, im Tessin, in der Innerschweiz sowie in der Ostschweiz resp. dem Fürstentum Liechtenstein.

Auf die Wahlen hin wird unter www.regenbogenpolitik.ch eine Plattform mit Kandidatenempfehlungen aufgeschaltet. Was müssen denn Kandidierende vorweisen, um die Network-Unterstützung zu haben?

Michael Lindenmann: Was eine direkte Unterstützung von Kandidatinnen und Kandidaten anbelangt, hält sich Network eher zurück, jedoch unterstützen wir die sieben Mitglieder aktiv, die sich zur Wahl stellen.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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