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Zeyer zur Zeit

Im Blindflug durch den Nebel

Kosten/Nutzen von dramatischen Einschränkungen der Wirtschaft? Ladenschlusszeiten ändern oder ganz zusperren? Was wirkt wie, was kostet wie viel? Öhm.

«Die Ostschweiz» Archiv am 24. Januar 2021

Die Kosten abschätzen wollen, den Wert eines Lebens in Geld ausdrücken, das ist pfuibäh. Brutalismus von neoliberalen Unmenschen, die für Profit über Leichen gehen.

Diese im Ton höchster moralischer Entrüstung vorgetragene Kritik an jedem, der die Frage wagt, ob die Multimilliardenschäden in der Wirtschaft, eine mögliche Pleitewelle von Tausenden von KMU, von Hotels, Restaurants, Detailhändlern, in einem gesunden Verhältnis zum Nutzen stünden, ist völliger Unsinn.

Oder sonst wäre jede Krankenkasse in der Schweiz von Unmenschen geführt. Denn es gehört nicht nur zu ihren täglichen Aufgaben, sondern ist sogar gesetzlich gefordert, dass sie bei jeder Kostenübernahme vorher abwägen müssen, ob die Verhältnismässigkeit zwischen Kosten und Nutzen gewahrt ist.

Alle diese Dummschwätzer vom unbezahlbaren Wert des Menschenlebens würden genauso aufjaulen, wenn dieses Prinzip tatsächlich angewendet würde – und damit ihre Prämien in die Stratosphäre abhöben.

Gut, aber der Bundesrat wird doch hoffentlich diese Abwägung in seine Entscheidungen einfliessen lassen. Jein. Er wird ja von einer 70-köpfigen Schar von Koryphäen auf allen Gebieten beraten, vor allem auf dem Gebiet der klaren Kommunikation ohne Kakophonie.

Eine der vielen Untergruppen versammelt den geballten ökonomischen Sachverstand der Schweiz. Genauer: den theoretischen Sachverstand. Geleitet wird diese Gruppe von Jan-Egbert Sturm, Chef der Konjunkturforschungsstelle an der ETH Zürich (KOF). Der fiel letzthin mehrfach durch krachende Fehlprognosen bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung auf. Dann setzte er sich mit haltlosen Behauptungen auf dem Gebiet der Epidemiologie in Szene und ins Fettnäpfchen.

Von dieser Gurkentruppe von Uniprofessoren verlangte der Bundesrat eine volkswirtschaftliche Einschätzung der Auswirkungen seiner letzte Woche angekündigten verschärften Massnahmen. Das daraus entstandene Paper blieb zunächst unter Verschluss, nun ist’s abrufbar.

Nein, man muss die 13 Seiten nicht vollständig durchlesen. Der «Exekutive Summary» reicht bereits, damit man sich darüber im Klaren wird: Aufgrund unbelegter Annahmen und Hypothesen werden hier Schlussfolgerungen, Einschätzungen und Ratschläge verstreut. Eigentlich kann man schon an der Stelle aufhören, wo ausgeführt wird, dass die Aussagen und Einschätzungen aufgrund eines Konjunkturmodells der KOF erfolgen. Eben der KOF, die sich im Bereich von fast 5 (!) Prozent in ihrer jüngsten Konjunkturprognose verhauen hat.

Zudem werden keine Einzelmassnahmen auf Kosten/Nutzen untersucht. Sondern es werden nur generelle Aussagen zu den neuen Einschränkungen gemacht, nicht etwa zu den bisher bestehenden. Auswirkungen auf den Aussenhandel, die Mortalität, die Psyche, den nötigen Optimismus für Investitionen, das interessiert diese Wissenschaftler natürlich nicht.

Die Kosten sind grobe Schätzungen, mehr nicht. Noch schwieriger ist die Schätzung des Nutzens. Dafür muss die mögliche Verlängerung der Lebenszeit angenommen werden, und der muss dann noch ein Wert zugeteilt werden. Aber wie? Unter Berücksichtigung, dass über die Hälfte der Corona-Toten in einem Alter gestorben sind, das bereits oberhalb der durchschnittlichen Lebenserwartung liegt?

Kann ein Lebensjahr eines Ü-80-Jährigen gleich viel wert sein wie das eines 30-Jährigen? Nein, das ist keine unmenschliche Frage; sie wird ständig bei Streitigkeiten über Versicherungsleistungen beantwortet. Das Bundesgericht hat im Jahr 2010 einem Lebensjahr den Wert von 100'000 Franken zugemessen.

Aufgrund dieser Zahl schätzt nun die Expertengruppe den Nutzen der verschärften Massnahmen auf 2,3 bis 3,6 Milliarden Franken. Zufällig liegt die Schätzung der Kosten bei 2,8 bis 3,6 Milliarden. Also alles super. Kosten/Nutzen halten die Balance, als Extraprofit wurden viele Lebensjahre gerettet, viel Leid reduziert, wunderbar.

Nur: das alles basiert auf einem wackeligen Modell der KOF, auf einem unbeschadet des Alters festgelegten Wert eines Lebensjahrs, auf unvollständigen Schätzungen der Schäden. Also auf heisser Luft und einem feuchten Finger im Wind.

Die Beschäftigung eines Voodoo-Priesters, eines afrikanischen Regenmachers, eines Muschelwerfers, der aus ihrer Position die Zukunft deutet, all das wäre ungefähr gleich sinnvoll. Und erst noch viel kostengünstiger. Aber mit mindestens so hoher Trefferwahrscheinlichkeit.

Um die Absurdität solcher Prognosen zu illustrieren, wurde einmal eine Horde Affen gegen eine Bande von Bankanalysten in Stellung gebracht. Beide sollten die zukünftige Entwicklung eines Portefeuilles vorhersagen und steuern. Die Affen warfen Pfeile auf Zielscheiben, je nachdem, auf welchem Feld sie landeten, wurden für sie Entscheidungen getroffen. Die Banker verwendeten ihre Formeln, Algorithmen und Computer. Die Affen gewannen.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
«Die Ostschweiz» Archiv

«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.

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