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Sola scriptura

Wären Sie geblieben?

Versetzen Sie sich in die Reformationszeit – und erlauben Sie mir die Frage: Wären Sie – vorausgesetzt Sie sind katholisch – in der Reformationszeit beim alten, beim katholischen – Glauben geblieben?

Beat Grögli am 03. Mai 2018

Oder hätten Sie sich der neuen, reformierten Richtung angeschlossen? – Das ist natürlich eine spekulative Frage. Aber wenn wir uns den Zustand der katholischen Kirche damals vor Augen führen, bin ich mir nicht so sicher, wie viele heutige Katholiken bei ihr geblieben wären. Dass die katholische Kirche heute so ist, wie sie ist, verdankt sie – auch – der Reformation. Vieles, was wir in unserem Glauben und im Gottesdienst sehr schätzen, was für uns heute selbstverständlich ist, sind Anliegen, welche schon den Reformatoren am Herzen lagen: eine verständliche Liturgie, die aktive Teilnahme aller Gläubigen am Gottesdienst, einfache und klare Zeichen, die zum Wesentlichen führen, ein reich gedeckter Tisch des Wortes.

Schauen wir nur das Letzte etwas genauer an. Wenn ich heute als Katholik jeden Tag den Gottesdienst besuchen würde. Oder wenn ich – was auch nicht verboten ist –jeden Tag die Texte aus der Bibel lese, welche die Lese-Ordnung der katholischen Kirche bereithält, dann habe ich in drei Jahren einen ganz grossen Teil der Heiligen Schrift gehört oder gelesen. Das ist wunderbar! Ich habe die Bibelkenntnisse von evangelischen und reformierten Kollegen und Kolleginnen immer bewundert – schon als Jugendlicher, und später dann auch während des Theologie-Studiums bis heute. Da sind sie einfach gut! Viele reformierte Pfarrerinnen und Pfarrer können ohne grosse Schwierigkeiten das griechische Neue Testament lesen und verstehen, das heisst: den biblischen Text im Original lesen. Davon sind die meisten katholischen Seelsorgenden weit entfernt.

«Sola scriptura» – allein die Heilige Schrift. Das war den Reformatoren wichtig. Es war ihnen wichtig in einer Kirche, die von Traditionen aller Art überwuchert war und in der das Wesentliche, das Evangelium, irgendwo unter Ferner lief. Die Reformation hat auch die katholische Kirche zur Besinnung gebracht und die Heilige Schrift wieder an den ersten Platz gesetzt.

Manchmal habe ich Begegnungen und Diskussionen mit Katholiken, wo ich auch fast reformiert werde: Wenn andere Texte und Traditionen so viel Raum einnehmen und ein solches Gewicht haben, dass das Evangelium zur Nebensache wird. Wenn geistliche Gemeinschaften die Texte ihrer Gründerpersönlichkeiten mehr lesen als das Evangelium selbst. Wenn sich Katholiken bei Marien-Erscheinungen bestens auskennen und genau wissen, was Maria wo gesagt hat, ausser im Evangelium. Wenn sich Sonder-Spiritualitäten entfalten, die einen Aspekt im Glaubensleben zur Hauptsache erklären und dabei die ganze Breite und Tiefe des Glaubens aus dem Blick verlieren.

«Sola scriptura» sage dann auch ich und bin froh um diese evangelische Besinnung auf das Wesentliche.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Beat Grögli

Beat Grögli (*1970) ist Dompfarrer in St.Gallen

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