Der Bevölkerung der Schweiz wurde unter bestimmten Bedingungen der Eintritt der Normalisierungsphase versprochen. Diese Bedingungen sind erfüllt. Doch nun passiert das Gegenteil. Welchen Wert hat das Wort der Landesregierung?
Man kann und soll sich über die hemmungslos überdimensionierte und vom Steuerzahler finanzierte Bundesverwaltung aufregen. Wir tun das auch oft. Einen Vorteil hat sie allerdings: Was einmal beschlossen und gesagt ist, ist irgendwo dokumentiert. Offiziell, unwiderruflich.
Wir erinnern uns an das Drei-Phasen-Modell des Bundesrats, einst bedeutungsschwer eingeführt. Alle starrten wir auf den letzten Punkt: Die Normalisierungsphase. Dann, wenn das Leben wieder so weitergehen soll wie vorher. Ob dieses Leben «normal» war oder nicht, ist eine andere Frage, aber immerhin: Business as ususal.
Wann genau hätte diese Normalisierungsphase eintreten sollen? Nehmen wir den Bund beim Wort:
«Sind alle impfwilligen erwachsenen Personen vollständig geimpft, beginnt die Normalisierungsphase. (...) Die verbleibenden Massnahmen (Zugangs- und Kapazitätsbeschränkungen) sollen schrittweise aufgehoben werden. An dieser Strategie soll auch festgehalten werden, wenn die Impfbereitschaft der Bevölkerung entgegen der Erwartungen tief bleibt.»
Ein klares Wort. Ein überprüfbares. Heute, am 8. September 2021, kann man nüchtern feststellen: Wer bis hierhin Lust hatte, sich impfen zu lassen, konnte das tun. Und wie hoch die entsprechende Quote ist, darf keine Rolle spielen. Jedenfalls, wenn man dem Bundesrat glaubt.
Was passiert stattdessen? Wir stehen vor einer Ausweitung der gesellschaftlichen Diskriminierung. Als Argument dafür dienen angeblich überbelegte Intensivstationen. Das ist ein Thema für sich, wir haben es hier behandelt. Wichtiger ist aber: Wo genau ist die «Normalisierungsphase» gekoppelt an die Intensivstationen? Der Bundesrat hat klar festgehalten, dass Zugangs- und Kapazitätsbeschränkungen davon abhängig sind, ob alle impfwilligen Erwachsenen vollständig geimpft sind. Punkt. Basta. Aus.
Nur gilt das nicht mehr. Einfach so. Vor laufenden Kameras wurde die aktuelle Ansteckungsrate, verbunden mit der sehr fragwürdigen Ausnützungsziffer der Intensivstationen, zum neuen entscheidenden Kriterium erhoben.
Wer hat das definiert? Wer hat das beschlossen? Warum kann ein Drei-Phasen-Plan, ursprünglich in Stein gehauen, plötzlich so aufgeweicht werden? Warum kann man neue Kriterien erfinden, wenn die alten nicht das hergeben, was man gerne hätte?
Darauf darf man wohl keine Antwort erwarten. Aber zur Erinnerung, bevor der Bundesrat zum grossen Schlag ausholt: Er hat einst etwas völlig anderes als Strategie definiert. Er übergeht seine eigenen Kriterien. Er macht das, was er beschlossen hat, selbst zur Makulatur.
Es sind alle geimpft, die das wollen. Die Normalisierungsphase müsste nun eintreten. Darüber muss man nicht einmal diskutieren. Das ist einfach so. Alles, was daran vorbei passiert, ist in keiner Weise legitimiert. Aber es wird akzeptiert.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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