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Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

Was haben Tiefgaragen mit Vereinsamung zu tun? Weshalb macht Komfort das Leben oft nicht besser? Die St.Galler Architektin Regula Geisser ist Mitautorin der Studie «Grünes Gallustal» und spricht im Interview über ihre Vision einer nachhaltigen und sozialen Gestaltung unserer Wohn- und Lebensräume.

Marcel Baumgartner am 01. Januar 2024

Regula Geisser, wollten Sie schon immer Architektin werden?

Nein. Zur Architektur bin ich über Umwege gelangt. Zuerst schloss ich die Primarlehrerinnenausbildung ab und anschliessend besuchte ich das Grundstudium an der HSG. Schliesslich zog es mich dann nach Winterthur ans Tech (heute ZHAW), das ich nach einem Praktikum in einem renommierten Zürcher Architekturbüro besuchte und erfolgreich abschloss.

Nun sind Sie aber schon länger in St. Gallen tätig. Kann man sich hier überhaupt ver­wirklichen? Sind wir hier nicht eher zurück­haltend, ja, fast mutlos unterwegs?

Die Illusion, dass man sich als Architektin selber verwirklichen kann, hat man im Studium sehr stark. Denn dort ist dies noch möglich, weil man mehrheitlich mit rein theoretischen Aufgaben beschäftigt ist. In der Praxis steht aber klar das Nutzungsinteresse, das Pragmatische und Finanzierbare im Vordergrund. Entsprechend ist es die Herausforderung, eine Facette der eigenen Verwirklichung zu integrieren, etwas Individuelles zu schaffen, etwas mit Wiedererkennungswert. Wir haben das Ziel, jede Aufgabe massgeschneidert zu lösen. So schafft man Unikate.

Das soll letztlich natürlich auch auf die Marke Ihres Unternehmens einzahlen.

Wir haben nicht den Wiedererkennungswert eines Calatrava. Unser Ansatz ist, dass die Qualität sowohl gross- wie kleinmassstäblich umgesetzt wird. Wir gehen auf die spezifischen Herausforderungen ein. Je komplexer die Situation, desto interessanter ist der Architekturauftrag. Ein Bau auf der grünen Wiese ist entsprechend weniger spannend, überspitzt gesagt.

Gibt es diese grünen Wiesen überhaupt noch? Man hat das Gefühl, es sei schon alles zugebaut?

Ja, es gibt sie noch an den Siedlungsrändern von Städten oder Ortschaften. Aber sie werden immer rarer und das ist auch richtig so. Umso mehr ist intelligente Architektur gefragt, damit eine hochwertige Siedlungsentwicklung gegen innen gelingen kann. Wir haben zu diesem Thema die umfangreiche Studie «Grünes Gallustal» geschrieben, die u.a. auch aufzeigt, wie wir das Grün wieder zurück in die Stadt integrieren können im Zuge der globalen Umweltprobleme.

Haben Sie schon einmal ein Projekt umge­setzt, hinter dem Sie nicht wirklich stehen konnten?

Nicht im Moment der Realisierung, nein. Es wäre schwierig, an einem Bauwerk zu arbeiten, hinter dem man nicht stehen kann. Das kam noch nie vor. Aber es ist natürlich ein stetiger Lernprozess. Aus dem heutigen Blickwinkel und mit dem heutigen Wissen würde ich sicherlich gewisse Projekte der Vergangenheit heute anders umsetzen.

In welchen Aspekten? Visuell? Energetisch?

Das umfasst sämtliche Aspekte. Vom Studium her kennt man vielleicht noch eine gewisse Radikalität, eine Rücksichtslosigkeit. Und man nimmt sich anfangs womöglich auch selbst zu wichtig. Je mehr man aber mit Menschen zu tun hat, je mehr man sieht, wie komplex die Welt eigentlich ist, desto mehr nimmt man sich zurück. Man wird dann sensibler und vorsichtiger.

Und dann kann es vorkommen, dass ein Kunde von Ihnen mehr Mut verlangt?

Nein. Der Mut des Bauherrn manifestiert sich in unserer Arbeit. Das Ergebnis ist letztlich ein Abbild von ihm. Es hat keinen Wert, gegen das Naturell und die Interessen eines Bauherrn zu arbeiten – ob nun im defensiven oder offensiven Bereich. Viel wichtiger ist, im Vorfeld zu erkennen, ob man eine gemeinsame Haltung finden kann und nötigenfalls halt einen Auftrag ablehnt.

Regula Geisser

Regula Geisser: «Schlechte Architektur entsteht häufig, weil das Projekt zu Tode gespart wird.» (Bild: Bodo Rüedi)

Wie hat sich die Architektur in den vergan­genen 20 Jahren verändert?

Die Schere zwischen banaler Architektur und sogenannter Starachitektur ist grösser geworden. Hochwertige Architektur für alltägliche Bauaufgaben, wie z.B. Wohnhäuser, ist selten geworden. Gute Architektur lässt sich nicht so einfach multiplizieren wie schlechte und ist somit weniger rentabel. Schlechte Architektur entsteht häufig, weil das Projekt zu Tode gespart wird und das Augenmerk allein beim Komfort und beim Profit liegt.

Und gute Architektur ist teuer …

Sie schlägt aufs Portemonnaie, ja. Das ist nur logisch, weil sie mehr Entwicklungszeit beansprucht und eine Auseinandersetzung mit dem Ort, der Geschichte und dem Auftraggeber erfordert. Nachhaltig ist, eine spezifische, massgeschneiderte Architektur zu fördern. Tut man das nicht, spürt man das spätestens in 20 Jahren.

Inwiefern?

Bei klassischen «Renditeprojekten» ist die Erstvermietung selten das Problem. Aber schon nach kurzer Zeit nimmt die Attraktivität deutlich ab und letztlich stehen sie zur Hälfte leer, es werden schlimmstenfalls «Gammelhäuser». Bei hochwertiger Architektur und grünem Aussenraum gibt es weniger Wohnungswechsel und auch nach Jahrzehnten kaum Leerstand.

Haben wir denn aktuell nicht eher zu wenige Objekte mit günstigen Mietpreisen?

Das Problem ist entstanden, weil vermehrt Altbauten abgerissen und kleine grüne Freiräume überbaut werden. Es wäre aber von Vorteil, genügend Altbausubstanzen stehenzulassen und sanft zu sanieren – verteilt durch die gesamte Stadt. So erhält man eine soziale Durchmischung und Grünsubstanz in allen Quartieren. Eine solche entsteht nur durch Mietobjekte mit unterschiedlichem Wohnstandard. Mehr Eigentumswohnungen über den ganzen Stadtraum verteilt würden den einfacheren Wohnhäusern ein stabilisierendes Pendant bieten.

Auch durch Neubauten?

Auch bei Neubauprojekten sollte man die Bauträger in die Pflicht nehmen können, einen Mix an unterschiedlichen Wohnstandards zu realisieren. So sollte ein gewisser Bestandteil an einfacheren Wohnungen in grosse Überbauungen integriert werden müssen. Grundlage hierfür könnte eine Art Pflichtenheft bilden. Etwas Weiteres, das gefördert werden sollte, sind Wohnbaugenossenschaften, die mit der Kostenmiete bezahlbaren Wohnraum fördern.

Wird die durchschnittliche Fläche, die ein Mensch bewohnt, irgendwann wieder zurückgehen?

Das ist zumindest ein erklärtes Ziel– beispielsweise schon in Bern oder Zürich. In St. Gallen spüren wir das noch kaum, weil wir einen überdurchschnittlich hohen Leerwohnungsbestand haben. Das entschärft bei uns diese Platzthematik. Aber schon aus ökologischen Überlegungen sollten wir uns damit befassen. Und dann hat es auch noch eine psychologische Komponente.

Und die wäre?

Der Mensch ist ein soziales, interaktives Wesen, auch wenn er sich dessen nicht immer bewusst ist. Er ist glücklicher und sicherer in einer «Gemeinschaft» und wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen.

Da werden Ihnen nun sicherlich viele widersprechen.

Das ist mir klar. Viele haben den Traum vom eigenen Haus, von einem Familienidyll mit grüner Umgebung. Und hier ist es auch stimmig. Aber je kleiner die Familien sind, desto mehr entsteht das Bedürfnis nach einer Interaktion mit anderen, nach einer Art «Dörflichkeit», wie man sie von früher her kennt. Man wohnte wohl enger und auf kleinerem Raum, hatte aber mehr Grünflächen und Orte für Gemeinsamkeit.

Und heute schotten wir uns ab.

Teilweise haben wir uns zu einer Gesellschaft von Einzelgängern entwickelt. Die Tiefgaragen sind mitschuldig, dass Wohnquartiere von aussen betrachtet oft menschenleer sind.

Das müssen Sie jetzt erklären.

Man begegnet sich nicht mehr. Jeder gelangt unbemerkt in seine Wohnung. Und es herrscht Misstrauen, wenn man Geräusche hört oder fremde Personen auf dem Areal sieht. In grösseren Häusern kommt es vor, dass man die eigenen Nachbarn nur flüchtig oder gar nicht kennt.

Wie könnte man das ändern?

Indem man Qualität in das verdichtete Bauen bringt. Das würde zu weniger Vereinsamung führen. Unser Büroteam ist der festen Überzeugung, dass ein Gesundschrumpfen mehr Lebensqualität bringt. Komfort macht das Leben vielfach nicht besser. Das würde aber bedeuten, dass wir wieder richtige Eingangsbereiche schaffen, gemeinsame Begegnungsplätze statt grosser Balkone in jeder Wohnung und mehr Grünflächen, wo man sich zusammen aufhalten kann. Besonders für ältere Menschen und all jene, die unter Einsamkeit leiden, sind die gängigen Neubautypologien sehr nachteilig.

Regula Geisser

Regula Geisser: «Die Fragestellung, ob ein Mensch zufriedener ist, wenn er weniger Raum hat, würde ich klar mit Ja beantworten.» (Bild: Bodo Rüedi)

Üben für Sie dennoch die millionenschweren Anwesen von Schwerreichen eine gewisse Faszination aus?

Ja und nein. Meistens ist das ja jeweils eine eigene Welt für sich, wo auch ein gesellschaftlicher Austausch stattfindet. Auch wenn es sicherlich abgründige Beispiele gibt. Sie sind aber nicht repräsentativ für 99 Prozent der Bevölkerung. Ich selbst verbrachte auch schon einmal eine Nacht in solch einem Luxusanwesen. Mir war es aber unheimlich – trotz Alarmanlage. Da lebe ich lieber in meinem Mehrfamilienhaus, unter Menschen.

Die meisten Architekten wohnen ja aber in Altbauten …

Ja, und das, obwohl sie mehrheitlich Neubauten erstellen. Bei vielen Altbausubstanzen spürt man aber noch eine baumeisterliche Qualität, die bei neuen, sehr schnell geplanten und gebauten Objekten fehlt. Man merkt, wie viel Wert und Energie in sie gesteckt wurde. Natürlich hat man auch früher schlechtere Häuser gebaut. Aber diese sind mit der Zeit verschwunden, geblieben sind noch die anschaulichen Beispiele der verschiedenen Epochen. Und das wird auch mit unserer Epoche nicht anders sein. Der Zyklus hat sich aber verschnellert, weil weniger Wert auf Nachhaltigkeit gelegt wird.

Es werden ja aber durchaus auch Objekte unter Denkmalschutz gestellt, die keine Augenweide darstellen.

Der Denkmalschutz ist dafür verantwortlich, dass man aus jeder Epoche Zeitzeugen erhält. Fehlt es an guten Beispielen, kommen zwangsläufig auch die mittelprächtigen zum Zuge. Für den Laien ist das oftmals nicht nachvollziehbar.

Wie würden Sie Ihren Architekturstil beschreiben?

Als weiterentwickelnd. Ich will zunächst die Logik des Bestehenden erkennen und aus diesen Erkenntnissen Neues herausarbeiten. Und das immer mit einer klaren Schnittstelle. Bei Umbauten ist es ein Schnitt zwischen dem Vorhandenen, das ich repariere, und dem Neuen, das ich aus den heutigen Erfordernissen ableite. Bei Neubauten ist es ein Schnitt zwischen der beständigen Landschaft oder dem gewachsenen Siedlungsraum und dem Haus. Wichtig ist mir immer die Atmosphäre – und diese fängt im Aussenbereich an, der für mich mindestens ebenso wichtig ist wie das Innere.

Nicht wenige Architekten klagen über die starke Reglementierung. Wie sehr erschwert sie Ihre Arbeit?

Da muss man zwei Bereiche unterscheiden. Starke Vorschriften haben wir vor allem bei der technischen Seite, wenn es beispielsweise um Bauphysik, Lärmschutz, Haustechnik oder Brandschutz geht. Hier haben wir einen Standard erreicht, von dem andere Länder meilenweit entfernt sind.

Der unnötig ist? Wir setzen auf 120 Prozent, obwohl 100 Prozent genügen würden?

Genau. Hier fehlt das Augenmass, was das Bauen auch enorm kompliziert macht und verteuert. Am augenscheinlichsten kommt dies bei den andauernden Unterhaltsarbeiten im Strassenbau zum Vorschein, wo der «Swiss Finish» horrende Summen an Steuergeldern verschlingt.

Und der zweite Bereich?

Bei der Gestaltung haben wir nur geringe Vorschriften. Man kann praktisch bauen, was man will. Es herrscht kein verbindlicher Anspruch an die Ästhetik. So aber kann auch kein Gesamtbild mehr entstehen, keine Charakteristik eines Gebiets. Eine gewisse Einheitlichkeit und ein ästhetischer Anspruch würden dem Architekten aber helfen, ohne ihn einzuengen. Es würde dazu führen, dass es in einem Quartier mehr Identität gäbe statt einer Ansammlung beliebiger Bauten. Ich spreche hier nicht von einer Art Art «Dirigismus», keine Sorge. Gute Beispiele findet man in Paris und Rom, aber auch in der Ostschweiz gibt es noch viele intakte Beispiele, wo gewisse Stile Quartiere prägen und wunderschöne Ortsbilder haben entstehen lassen.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Co-Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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