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Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

Heute beginnt in Bern die Session des Parlaments. Bundesrätin Karin Keller-Sutter erklärt im Interview, weshalb sie das Ukraine- und Armeepaket für widerrechtlich hält, warum sie gegen die «Mä hät's jo»-Mentalität kämpft - und wie wichtig es ihr ist, eine Bundesrätin für die Ostschweiz zu sein.

Odilia Hiller am 27. Mai 2024

Die Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier diskutieren in der aktuellen Session einen umstrittenen Deal, der vorsieht, 15 Milliarden Franken für die Armee und den Wiederaufbau der Ukraine auszugeben, ohne die Schuldenbremse einhalten zu müssen. Eine Mittelinks-Allianz möchte die Gelder als «ausserordentliche Ausgaben» verbuchen, um die Schuldenbremse auszuhebeln. Die Linke unterstützt die Ukraine-Hilfe, lehnt aber eine Schwächung der übrigen Entwicklungshilfe ab. Die Bürgerlichen fordern mehr Geld für die Armee, sind aber gegen die Umgehung der Schuldenbremse.

«Die Ostschweiz» hat mit Finanzministerin Karin Keller-Sutter, der Ostschweizerin im Bundesrat, in ihrem Berner Büro über das Vorhaben gesprochen - und über vieles mehr.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter, wir müssen über die Schweizer Schuldenbremse reden. Und darüber, was ausserordentliche Ausgaben sind. Die Meinungen gehen weit auseinander, was die Aufrüstung der Armee und den Wiederaufbau der Ukraine angeht.

Die Schuldenbremse ist im Grunde eine Regel, die so ähnlich auch jeder Haushalt und jede Familie kennt: Dass man auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt. Von dieser Regel gibt es Ausnahmen, nämlich die sogenannte Ausserordentlichkeit. Damit diese Ausnahmeregel der Schuldenbremse in Anspruch genommen werden kann muss eine Ausgabe absolut unerwartet kommen. Und sie darf nicht steuerbar sein. Beide Bedingungen müssen erfüllt sein.

Wie die Coronakrise?

Die Coronakrise war ein klassischer Fall. Das Virus kam quasi über Nacht. Als der Bundesrat den Lockdown beschloss, gab es für viele Betriebe Ausfälle, weshalb man neben den Ausgaben für Impfstoffe und Tests auch Härtefallhilfen für Unternehmen beschloss. Das war etwas, das wirklich überraschend kam, und der Bundesrat konnte das nicht steuern. Das heisst, von den rund 35 Milliarden, die man für Corona insgesamt ausgegeben hat, wurden 33 Milliarden ausserordentlich verbucht. Oder nehmen Sie die Ankunft der Ukraine-Flüchtlinge: Russland griff die Ukraine an, und wenige Tage später standen Tausende hier. In beiden Fällen ist die Ausserordentlichkeit überhaupt nicht bestritten. Was man allerdings gern vergisst: Solche ausserordentlichen Ausgaben müssen zurückgezahlt werden.

Der Bund muss das Geld zurückholen, das er ausgegeben hat?

Grundsätzlich nach sechs Jahren. Man hat dann aber bei den Coronaschulden verlängert auf 2035. Das heisst, und so lautet die Regelung heute, dass diese grundsätzlich bis 2035 wieder zurückgezahlt werden müssen. Und nun zu Ukraine und Armee: Der Bundesrat hat zu verschiedenen Vorstössen Stellung genommen, welche die Ausserordentlichkeit beim Ukraine-Wiederaufbau beanspruchen möchten. Oder auch zur Motion Salzmann im Ständerat zur Ausserordentlichkeit der Armeeausgaben. Deshalb empfiehlt der Bundesrat auch die Motion zur Ablehnung, welche Ukraine-Aufbau und Armeeausbau ausserordentlich finanzieren möchte. Da ist er konsequent. Er hat immer festgehalten, dass Ausserordentlichkeit nicht gegeben sei. Die Höhe der Ausgaben ist steuerbar. Man kann als Land entscheiden, ob man am Ukraineaufbau partizipieren will. Ob überhaupt, wann, und mit wie viel. Das ist steuerbar und kontrollierbar durch den Bund. Ich kenne keinen Juristen in der Bundesverwaltung, der das als ausserordentlich taxieren würde. Auch der sogenannte St.Galler Kommentar zur Bundesverfassung ist da glasklar.

Die Parlamentsmitglieder, welche die Ausgaben als ausserordentlich verbuchen möchten, wollen angesichts der weltweit angespannten Lage doch einfach das Tempo erhöhen.

Das mag sein. Aber die vorgeschlagenen Methoden sind rechtswidrig – und darüber hinaus teuer. Wir haben das angeschaut, gerade bei den Armeeausgaben. Was heisst es, wenn man den Ausbau auf ein Prozent bis 2035 macht, und was, wenn man bereits bis 2030 ausbaut? Und was bedeutet dieser ausserordentliche Fonds? Das Fazit ist eindeutig: Die Belastung für den Staatshaushalt ist mit diesem Fonds am grössten. Weil man ihn zurückzahlen muss. Die anderen Varianten muss man nicht zurückzahlen, wenn die Gelder aus dem ordentlichen Budget kommen. Es ist einfach die Frage, innert welcher Frist man sie zur Verfügung stellt.

Haben die Fans des Fonds eventuell vergessen, dass man die Gelder zurückzahlen muss?

Ich weiss es nicht. Aber dass die Finanzkommission des Ständerats die betreffende Motion klar abgelehnt hat, deutet darauf hin, dass manche durchaus verstanden haben, wie sehr ein Fonds den Haushalt belasten würde.

Wenn Sie sagen, das sei rechtswidrig, darf das Parlament so etwas überhaupt beschliessen?

Dürfen oder Können? Das Parlament kann das tun, ja. Die Schweiz kennt für Bundesgesetze keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Ein Kanton könnte sich das nicht erlauben. Dort könnte man gegen eine solche Regelung klagen.

Doch für das Parlament gibt es keine Instanz, die beurteilt, ob Beschlüsse verfassungskonform sind?

Nein, die informelle Instanz in diesem Land war eigentlich immer der Ständerat. Man hat die Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Land immer abgelehnt, weil man nicht wollte, dass die Justiz Politik macht. Das Parlament macht die Politik, es hat aber auch die Verantwortung. Und der Ständerat hat sich immer als Hüter der Verfassung gesehen.

Die Befürwortenden des Fonds sagen, es herrsche eine ausserordentliche Lage. Wie beurteilen Sie die Sicherheitslage und den Handlungsbedarf?

Der Bundesrat hat den Handlungsbedarf bejaht. Er ist einverstanden damit, die Verteidigungsfähigkeit der Armee zu stärken. Man wird kumuliert bis 2035 20 Milliarden Franken mehr ausgeben für die Armee. Wir haben jetzt ein Budget der Armee von etwa 5,7 Milliarden pro Jahr. 2035 werden es pro Jahr 10,5 Milliarden sein. Das ist eine grosse Aufstockung, die der Bundesrat hier vorschlägt. Das wurde bis jetzt auch vom Parlament gestützt. Und ich meine, wenn man das will, was jetzt vorgeschlagen wird, also nochmals 10 Milliarden mehr, dann müsste man auch ehrlich und transparent sein und sagen, wie man es finanzieren will: mit Einsparungen anderswo oder mit Mehreinnahmen.

Also geht es Ihnen nicht darum, die Armee kleinzuhalten.

Im Gegenteil. Anfang der 1990er-Jahre habe ich in der Ostschweiz Flyer für den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen verteilt. Und ich kann mich erinnern, wie ich gemeinsam mit dem damaligen Bundesrat und Militärdepartementschef Kaspar Villiger auf dem St.Galler Marktplatz für den F/A-18 auftrat. Ich habe mich immer für die Interessen der Armee eingesetzt. Man muss aber eben auch die Regeln der Verfassung und der Gesetzgebung befolgen.

Und Ihre Aufgabe als Finanzministerin ist es, dafür zu sorgen, dass die Regeln eingehalten werden?

Alle müssen sich an die Regeln halten, der Bundesrat und auch das Parlament. Wir haben schliesslich einen Eid auf unsere Verfassung geleistet.

Dann frage ich jetzt direkt: Wie ist das für Sie, unter diesen Bedingungen mit dem Parlament zusammenzuarbeiten?

Gut, das ist eigentlich «Courant normal». Mit dem Parlament gibt es immer wieder Auseinandersetzungen, man ist nicht immer gleicher Meinung. Man muss auch damit leben können, dass das Parlament einmal anders entscheidet. Wir leben schliesslich in einer Demokratie.

Die Schuldenbremse erlangt jetzt eine Bekanntheit, die sie lange nicht hatte. Vor allem nicht während Corona. Wie steht es aus Ihrer Sicht um die finanziellen Nachwehen der Coronakrise? Es gibt viele, die sagen, das sei ja jetzt alles vorbei und zurückbezahlt.

Wir haben im Moment einen Schuldenstand aus der Coronazeit von 27,5 Milliarden Franken. Wir haben also nicht zurückgezahlt. Das Parlament hatte eigentlich beschlossen, dass man die Gewinnausschüttung der Nationalbank jeweils dem Schuldenabbau aus Corona zukommen lässt. Aber wir hatten lediglich eine Zahlung, seit man den Schuldenabbau beschlossen hat. So fand dieser nicht statt. Die Verschuldung des Bundes ist heute in absoluten Zahlen grösser als vor Einführung der Schuldenbremse. Und das führt dazu, dass der Bund im Moment Schuldzinsen von etwa 1,5 Milliarden Franken im Jahr zahlt.

Die Schuldenbremse sei ein «alter Zopf», ein «Fetisch des Bundesrats» und tauge nur in guten Zeiten, ist von den Kritikern zu hören. Das Parlament könnte doch einfach die Schuldenbremse abschaffen, wenn diese so störend ist?

Ja, absolut. Ein transparenter Weg wäre – wenn man die Schuldenbremse nicht will –, die Verfassung zu ändern und das Volk entscheiden zu lassen. Bei der Einführung im Jahr 2001 stimmten rund 85 Prozent für die Schuldenbremse. Ich würde mich deshalb über eine Volksabstimmung freuen. Ich bin überzeugt, dass das Volk hinter diesem Gedanken steht. Es ist normal, dass man auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt. Wer sagt, die Schuldenbremse sei ein alter Zopf, vergisst, dass es sich um einen Volksentscheid handelt. Einen Verfassungsauftrag. Die Schuldenbremse war ein Segen für die Schweiz. Wir stehen wirtschaftlich besser da als andere Länder. Wir sind besser durch die Finanzkrise gekommen. Wir sind besser durch die Coronakrise gekommen. Wir haben eine Finanzstabilität, eine Finanzdisziplin, die dazu beiträgt, dass wir berechenbar sind. Wir sind Triple-A geratet, haben also die höchste Bonität. Dadurch, dass wir bis zur Coronapandemie Schulden abbauen konnten, weil wir gute Abschlüsse hatten, hatten wir Geld zur Verfügung, um zu helfen, als es notwendig war. Man vergisst auch, dass die Finanzstabilität eine Auswirkung auf die Preisstabilität hat, auf die Währungsstabilität. Das hängt alles zusammen. Das ist eine absolute Stärke unseres Landes. Diese sollte man nicht aufgeben. Und: Die Schuldenbremse ist eigentlich gerade für schwierige Zeiten da.

Sie sagen also das genaue Gegenteil.

Man muss Prioritäten setzen. Und man muss sich für schlechte Zeiten wappnen. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der das zum Alltag gehörte. Man musste sich entscheiden, man musste vielleicht auf etwas verzichten. Es gibt wahrscheinlich nicht viele Familien oder Haushalte in der Schweiz, in denen es nicht darauf ankommt, wie viel man ausgibt. Ich finde es schon speziell, dass das, was jede Bürgerin und jeder Bürger, jede Familie tun muss, ausgerechnet der Staat nicht können will: nämlich Prioritäten setzen oder auch mal auf etwas verzichten.

Es gibt auch jene, die sagen, die Schweiz schwimme im Geld. Es gäbe noch so viele Reiche, bei denen man mehr Geld abholen könnte. Warum ist das nicht möglich?

In der Schweiz zahlen fünf Prozent der Steuerpflichtigen zwei Drittel der direkten Bundesteuer. Natürlich kann man die Steuern nochmals erhöhen. Letztlich geht es dann halt um die Frage, wer reich ist. Sehr oft trifft es auch den Mittelstand. Diejenigen, die wahrscheinlich schon alles selbst bezahlen, keine Prämienverbilligungen haben, keine zusätzlichen Leistungen des Staates beziehen, die für alles selbst aufkommen – und dann auch noch mehr Steuern zahlen sollen. Für ein soziales Gefüge und einen sozialen Zusammenhalt ist auch wichtig, dass das System gerecht ist. Es ist klar, dass wir Umverteilung haben, dass Leute, die mehr verdienen, mehr Steuern bezahlen. Wir haben auch eine hohe Progression bei der direkten Bundesteuer. In den Kantonen werden die Vermögen besteuert. Umverteilung findet also statt und ist in gewissem Ausmass auch richtig. Die Frage ist aber, wie weit man gehen will. Die Solidarität hat Grenzen. Man sieht das beispielsweise daran, wie viele Norweger in die Schweiz kommen. Weil sie einfach flüchten vor den hohen Steuern.

Karin Keller-Sutter

Die St.Galler Bundesrätin Karin Keller-Sutter. (Bild: EFD)

Sie haben vor kurzem am St.Gallen Symposium in diesem Zusammenhang gesagt: «Die Schweiz sollte nicht die gleichen Fehler machen wie die anderen.»

Ja, das bezog sich auf die Verschuldung. Ich bin bei den G-20-Finanzministern dabei und auch im Internationalen Währungsfonds (IWF). In diesen Gremien ist die Verschuldung der Staaten das Topthema. Dort spricht man darüber, was für ein grosses Risiko die hohe Verschuldung für die Wirtschaftsentwicklung, die weltweite Konjunktur und die Stabilität der Finanzmärkte ist. Das Thema kommt aber nicht wirklich in die Medien.

Die hochverschuldeten Länder machen sich selbst Sorgen?

Teilweise schon. Zum Beispiel Frankreich. Das Land hat eine hohe Verschuldung. Das ist auch für die Eurogruppe ein Problem. Frankreich gibt heute mehr aus für den Schuldendienst als für die Landesverteidigung. Deshalb sage ich, dass wir froh sein können, dass wir ein anderes System haben. Ich werde im Ausland überall nach der Schuldenbremse gefragt. Auch von den Franzosen, die uns beneiden, dass wir ein System haben, welches ein starkes Schuldenwachstum verhindert. Die weltweite Verschuldung ist nicht nur ein Risiko für den EU-Raum oder für die USA. Sie ist auch ein Risiko für die Schweiz. Wir sind eine exportorientierte Wirtschaft und leiden darunter, wenn die Nachfrage aus dem Ausland sinkt.

Im «St.Galler Tagblatt» vom 24. April 2024 war zu lesen: «Gerade die reiche Schweiz trägt Verantwortung. Und diese erschöpft sich nicht darin, den Bundeshaushalt wie weiland Buchhalter Nötzli rappenspalterisch zu führen. Kaum ein Land hat so wenige Schulden wie die Schweiz. Wenn sich jemand etwas Grossmut leisten kann, dann ist es unser Land.» Haben Sie etwas gegen Grossmut?

Ich würde nicht von Grossmut sprechen, sondern von Verantwortungslosigkeit. Wer will schon von den Eltern einen Schuldenberg erben? Der nächsten Generation einen Schuldenberg zu hinterlassen, wird hier als Grossmut betitelt. Das ist etwas speziell.

Die Verantwortung gegenüber der nachfolgenden Generation geht vergessen?

Ja, absolut. Und für den Zustand des Landes. Ich betone nochmals: Dass wir besser durch die Krise gekommen sind, hat auch damit zu tun, dass wir Finanzstabilität und Finanzdisziplin haben. Wir konnten im entscheidenden Moment helfen. Es geht deshalb eben nicht um Grossmut, sondern um Verantwortung. Wir sind eines der Länder, die sehr viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben. Es ist unbestritten, dass man Aufgaben erfüllen muss. Aber man muss dabei auch Prioritäten setzen.

Nochmals ein Kässeli, das Sie hervorzaubern sollten: die 13. AHV-Rente. Zurzeit nicht Ihr Problem?

Dafür ist das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) von Kollegin Elisabeth Baume-Schneider zuständig. Es hat die Vernehmlassungsvorlage erarbeitet. Die Finanzierung der 13. AHV-Rente wurde leider bei der Abstimmung ausgeblendet – man tat so, als würde das nichts kosten. Ich finde, wenn man bei Abstimmungen dieser Grössenordnung weiss, dass sie finanzielle Konsequenzen haben, sollte man eigentlich dem Volk gleichzeitig die Finanzierung vorlegen. Das gilt auch für die Prämienentlastungsinitiative, wo wir von Mehrkosten von bis zu elf Milliarden pro Jahr sprechen, die bis 2030 auf uns zukommen.

Sind das Vorlagen, bei denen die Initianten einfach Dinge formulieren, die man sich wünscht, ohne die Angelegenheit fertigzudenken?

Die Haltung ist: Irgendjemand wird schon bezahlen. In diesem Fall sind es die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Wenn es zu einer Mehrwertsteuererhöhung kommt, zahlen die Konsumentinnen und Konsumenten. Es ist einfach eine Illusion, zu glauben, man könne Leistungen ausbauen, ohne dass das jemand finanzieren muss. Der Gedanke, dass man, was man verteilt, zuerst auch erwirtschaften muss, ist etwas in den Hintergrund geraten. Bei Corona waren die Schleusen offen, und man jongliert nur noch mit Milliarden. Ich habe das Gefühl, man hat den Bezug zum Geld verloren.

Wer ist «man»?

Ich fasse das sehr breit. Teilweise in der Bevölkerung, auch in der Wirtschaft. Man stellt sofort Forderungen an den Staat, wenn etwas nicht funktioniert. Aber auch in der Politik.

Sie beklagen also eine «Mä hät’s jo»-Mentalität. Ist es nicht verständlich, wenn die Leute am Ende Monats immer weniger im Portemonnaie haben, dass Vorlagen wie die 13. AHV-Rente es leicht haben?

Es wurde im Abstimmungskampf immer wieder sehr erfolgreich gesagt, dass alles teurer wird, dass die Inflation dazu führt, dass man weniger im Portemonnaie hat. Bei der AHV aber wird die Teuerung regelmässig ausgeglichen. Im Unterschied zu den Löhnen, wo niemand verpflichtet ist. Gefühlt ist die Teuerung zudem grösser, als sie objektiv war. Ich glaube aber nicht, dass das Teuerungsargument der Hauptgrund war für die Annahme der 13. AHV-Rente. Ich hörte viel, dass die Leute dachten, das Geld sei ja vorhanden. Bei Corona habe man auch allen geholfen: «Darum bin ich jetzt mal dran, jetzt bekomme ich endlich etwas.» Wobei: nicht in der Ostschweiz. Die Ostschweiz hat die Initiative abgelehnt.

Und Sie gehen jetzt durchs Land und versuchen, diese Mentalität wieder umzukehren?

Ich sehe mich nicht als Messias oder in der Bekehrerrolle. Aber ich denke, man muss immer wieder darauf hinweisen, was die Stärken der Schweiz eigentlich sind. Diese waren immer eine gesunde Finanzpolitik, aber auch die Verantwortung im Privaten wie in der Wirtschaft. Die Leistungsbereitschaft. Aber auch die Solidarität im Sinne von gezielter Hilfe für jene, die diese auch wirklich benötigen. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass alles Geld, das der Staat ausgibt, zuerst erwirtschaftet werden muss. Das Geld kommt nicht vom Bancomaten, sondern von den Steuerzahlenden.

Reden wir über die Ostschweiz. Haben Sie seit Ihrem Wechsel in den Bundesrat noch Zeit, um auf die Entwicklung in der Ostschweiz zu schauen?

Ich lese jeden Morgen die «Wiler Zeitung» und verfolge das Geschehen in der Stadt Wil, aber auch im Kanton und in der Region. Ich verfolge sehr nahe, was passiert. Zudem habe ich regelmässige Treffen mit der Ostschweizer Regierungskonferenz.

Und das tun Sie, weil Ihnen wichtig ist, was hier passiert?

Ja, der Kontakt zur Ostschweiz ist mir wichtig. Ich schaue auch, dass ich präsent bin in der Ostschweiz. Wenn ein Landesteil einen Bundesrat hat, ist es wichtig, dass man diese Person dort auch sieht.

Also sehen Sie sich auch als Vertreterin der Ostschweiz im Bundesrat?

Ja, auf jeden Fall. Sehr stark.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Ostschweiz in den vergangenen Jahren?

Ich glaube, es gab schon positive Entwicklungen. Etwa beim öffentlichen Verkehr gab es starke Verbesserungen. Noch nicht alles, was die Ostschweiz sich wünscht, ist erreicht. Ein wichtiges Thema ist die Frage des Rosenbergtunnels. Die Spangen, die dritte Röhre sind für die Ostschweiz wichtig. Aber nicht nur für die engere Region. Man vergisst manchmal, wenn man gewisse Stellungnahmen aus St.Gallen liest, dass es um den Durchfluss der gesamten A1 geht, nicht nur um die Stadt St.Gallen. Besonders gefreut hat mich auch, dass die Metropolitanregion Bodensee zustande gekommen ist. Dass es nun anscheinend auch vom Kanton Thurgau positive Signale gibt. Hier geht es um das Verständnis, dass man als Region auf der Landkarte präsent sein muss, damit Bern überhaupt weiss, dass es einen gibt.

Ist es noch immer so, dass für Bern die Schweiz in Zürich oder Winterthur aufhört?

Man nimmt die Ostschweiz einfach kaum wahr. In der Berner Blase gibt es vor allem Bern. Und vielleicht noch die Romandie und das Mittelland. Die anderen Regionen… Ich glaube, das ist nicht einmal bösartig. Aber das ist nicht ihr Lebensraum, der Raum, in dem sie Erfahrungen machen, etwas erleben. Das muss ich auch ab und zu den Romands sagen. Wir sind nicht einfach alle «Suisses Totos». Es gibt auch «Totos» aus der «Suisse orientale». Die sind ein bisschen anders als die anderen «Totos». Es bestehen in der Deutschschweiz grosse Mentalitätsunterschiede. Ich will nicht Differenzen betonen, aber es ist eine Realität, dass man in der Ostschweiz anders tickt als in Bern. Mir ist das sehr wichtig. Ich gehe immer heim am Wochenende, wenn es möglich ist, weil ich aus dieser Berner Blase herauskommen möchte. Ich will den Kontakt zu Freunden und der Familie behalten.

Als ehemalige Dolmetscherin übersetzen Sie jetzt also die Ostschweiz für Bern.

Ja. Manchmal relativ deutlich. Wir haben vorhin über die 13. AHV-Rente gesprochen. Da hatten wir in der Ostschweiz ein anderes Abstimmungsergebnis. Wir sind eigentlich sehr weltoffen. Wir sind eine Grenzregion. Es gibt einen grossen Austausch mit Bayern, Baden-Württemberg, Vorarlberg, dem Fürstentum Liechtenstein. Das habe ich als Regierungsrätin erlebt. Man hat manchmal fast mehr dort hingeschaut als nach Bern. Auf der anderen Seite sind wir halt eher zurückhaltend. Wir sind keine Etatisten. Ich habe das Gefühl, dass die Eigenverantwortung bei uns immer noch einen Stellenwert hat. Auf eine Formel gebracht: Bei uns fragt man zuerst, ob es das braucht und was es kostet.

Laut ist der Ostschweizer auch nicht.

Nein, eher zurückhaltend. Wir sind auch manchmal etwas brötig. Aber ich glaube, darum steht auch in der Bundesverfassung, dass die Landesteile angemessen vertreten sein sollen im Bundesrat. Nicht, weil ich einfach St.Gallen vertrete. Wir als Bundesrat vertreten die ganze Schweiz. Aber die verschiedenen Mentalitäten spürt man halt einfach. Und die sollen in der Landesregierung vertreten sein.

Zu den Ereignissen rund die Übernahme der Credit Suisse (CS) durch die UBS. Würden Sie rückblickend etwas anders machen?

Nein. Was man gerne vergisst: Wir mussten innerhalb von drei, vier Tagen unter grossem Zeitdruck eine Lösung finden, die Stabilität bringt und Schaden vom eigenen Land abwendet. Wir hatten eine Ansteckungsgefahr für den eigenen Finanzplatz. Ein Untergang der CS wäre ein Super-GAU für unsere Wirtschaft gewesen. Es hätte erhebliche volkswirtschaftliche Kosten nach sich gezogen. Wir hatten das Risiko einer internationalen Finanzkrise. Letztlich war die Übernahme durch die UBS in dieser Situation die beste von allen schlechten Lösungen, wenn man so will. Und das Ergebnis stimmt. Wir haben Stabilität erreicht. In welcher Welt wären wir heute, wäre das nicht gelungen? Worüber würden wir in der Schweiz diskutieren? Es ist immer so, dass diejenigen, die Schaden abwenden, hinterfragt werden. Hätte man es nicht doch anders machen können? Ich nenne es den Wetterbericht von gestern voraussagen. Das finde ich nicht unbedingt eine Kunst.

Ist das eine Schweizer Spezialität?

Auf der internationalen Ebene wird die Leistung der Schweiz jedenfalls anerkannt. Das stelle ich fest, wo immer ich hinkomme. Wir haben die Lage stabilisiert, und es sind alle dankbar.

Sie haben im Ausland auch so schöne Titel bekommen. Die britische Finanzzeitschrift «The Banker» hat Sie zur europäischen Finanzministerin des Jahres 2024 gekürt. Die «Financial Times» hat Sie als eine der 25 einflussreichsten Frauen der Welt im Jahr 2023 bezeichnet. Gibt das Auftrieb?

Es hat mich insofern gefreut, als ich es als eine Anerkennung der Leistungen der Schweiz in dieser Frage interpretiert habe. Dass man im Ausland effektiv sieht, dass das, was wir in kurzer Zeit gemacht haben, eine Krise abgewendet hat. Es ist gut für die Schweiz, wenn man so über uns redet. Als ich im Februar in Sao Paulo war, kam ich beim Mittagessen zur Delegation eines lateinamerikanischen Landes. Ich sagte, ich sei Karin aus der Schweiz, Finanzministerin, er war der Notenbankgouverneur des Landes. Er sagte: «Ah! Switzerland! You saved the world.» Ich sagte: Danke vielmals, aber warum sagen Sie das? Er erklärte, welch hohe Durchdringung spanische Banken in Lateinamerika haben. Deshalb wären von einer Krise des europäischen Finanzplatzes auch Zentral- und Südamerika betroffen gewesen. Das hat mir nochmals einiges klargemacht zum Ausmass unserer Entscheidungen.

Was kann man tun, damit so etwas nicht wieder passiert?

Immer wieder aus Krisen lernen. Und die Vorkehrungen treffen, auch international, um sie bestmöglich zu vermeiden. Aber man muss demütig bleiben. Der Mensch hat immer das Gefühl, dass er mit dem Wissen aus der Gegenwart auch die Zukunft regulieren und beherrschen kann. Das ist eine Fehleinschätzung.

Das dürfte auch für die anderen Themen zutreffen, über die wir gesprochen haben?

Ich glaube, auch da braucht es Demut. Kein Mensch kann die Zukunft voraussehen, geschweige denn, sie beherrschen.

Das heisst, Sie möchten eine weitsichtige Bundesrätin sein?

Ja, selbstverständlich. Man hat aus dieser Krise die Lehren gezogen. Der Bundesrat hat den Bericht zur Bankenstabilität vorgestellt. Wir können mit diesen Massnahmen nicht garantieren, dass nie mehr etwas passiert. Aber man kann das Risiko für die Steuerzahlenden und den Staat minimieren. Das ist mein eigentliches Interesse. Natürlich will der Bundesrat auch einen starken Finanzplatz. Aber zur Stärke eines Finanzplatzes gehört auch seine Sicherheit. Das ist unsere Aufgabe. Wir müssen sicherstellen, dass in Zukunft eine Grossbank abgewickelt werden kann, ohne dass es einen Riesenschaden für das Land gibt.

Wir hatten auch kürzlich ein paar Ereignisse, die zu reden geben, unglückliche und glückliche. Die Todesnachricht von Vizekanzler André Simonazzi ist noch frisch.

Mir ging das sehr nahe. Wenn sich etwas so unerwartet ereignet und jemanden im besten Alter trifft, der gesund und fit war… Ich hatte am Mittwoch vor seinem Tod noch eine Bundesratssitzung mit ihm. Und am Freitag stirbt er. Das ist so unwirklich. Und dann sieht man plötzlich Schwarzweissbilder von dieser Person in den Medien…

Sie haben sich gut mit ihm verstanden?

Ja, wir haben uns gut verstanden. Wir hatten auch unterschiedliche Meinungen, natürlich. Aber wir konnten uns immer gut streiten. Wir hatten es auch lustig. Er war immer dabei, wenn wir Anlässe hatten: Extra-muros, Bundesratsschulreise, Weihnachtsessen…

Zu einer erfreulicheren Geschichte, dem gewonnenen European Song Contest (ESC) der Schweiz.

Ja?

Interessiert Sie das nicht?

Ich muss sagen, wenn das ausgestrahlt wird, bin ich jeweils im Bett. Und davor hatten wir Besuch. Aber es interessierte mich. Am Morgen danach schaute ich sofort online und habe mich gefreut. Früher hiess es immer, die Schweiz könne das gar nicht, und niemand gebe ihr Punkte. Offenbar hat dieser Beitrag nun aber den Zeitgeist getroffen. Ich gönne es Nemo.

Werden Sie für die Durchführung des ESC 2025 in der Schweiz einen ausserordentlichen Zustupf sprechen? Das ist doch ein unerwartetes Ereignis…

Ich bin nicht zuständig für alles, was etwas kostet. Die gebührenfinanzierte SRG und der Austragungsort – Gemeinde und Kanton – sind hier im Lead.

(Bilder: EFD)

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Odilia Hiller aus St.Gallen ist seit August 2023 Co-Chefredaktorin von «Die Ostschweiz». Seit 2000 im Journalismus, Master of Arts (MA) in Französischer und Deutscher Literatur und Sprache. Weiterbildungen u. a. in Leadership (MAZ Luzern). Frühere berufliche Stationen: St.Galler Tagblatt, NZZ, Universität St.Gallen.

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