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Kultzeitschrift

145 Jahre Nebelspalter - und die Suche nach dem Weg

Ja, es gibt ihn noch, den Nebelspalter. Nach einem halben Jahrhundert in Rorschach ist er über Basel nach Horn gewandert, wo er weiterblüht, insgesamt seit 145 Jahren, die Zeit, als die Schweiz von Franzosen besetzt war (ja, das ist kein Fake, sondern eine heute unvorstellbare Vorstellung!).

Wolf Buchinger am 23. Januar 2020

Der Nebi ist mit Abstand die älteste Satirezeitschrift der Welt – ausgerechnet in der Schweiz, das tut gut gegen die Vorurteile, dass es Humor nur in Österreich gibt.

Das digitale Zeitalter fordert Opfer, auch in der Presselandschaft. Für Junioren ist alles, was gedruckt ist, schnell altbacken und ungewohnt, sie leben in der Scheinwelt der Bildschirme. Der Nebelspalter muss immer als Zeitschrift erscheinen, die man in der Hand halten kann, denn im Internet wirkt er blass und flach. Ich wollte meine Sorgen um seine Zukunft auf mehr oder weniger wissenschaftliche Beine stellen und habe verschiedene Altersstufen gefragt: «Kennen Sie den Nebelspalter?»

Ü70: Toll, alle kannten ihn, viele hatten ihn im Abonnement und erklärten, dass er zu ihrem Leben gehört.

60-69: Fast wie die Siebzigjährigen, doch erste Lücken taten sich auf, weitaus weniger hatten ihn abonniert.

50-59: Vielen war er bekannt, die meisten lasen ihn in einem Wartezimmer, und einer gab unumwunden zu, ihn immer beim Zahnarzt zu klauen.

40-49: grosse Lücken, «Gibt es den überhaupt noch?», «Ich habe ihn meistens bei meinen Eltern gesehen» und zum ersten Mal: «Nein, der Name sagt mir nichts.»

30-39: Der grosse Frust, 90 Prozent ist er unbekannt. «Muss man dabei lachen?», «Ist das so wie Comedy?», «Satire – geht das noch?»

20-29: Grosser weisser Fleck, keiner konnte mit dem Namen etwas anfangen. «Ist das eine Outdoor-Marke?», «Lesen Sie so was freiwillig?»

10-19: siehe oben.

So etwas nennt man Frust total, und das Aussterben scheint nach 145 Jahren sicher zu sein. Auch Dinos mussten sterben, egal wie gross und gewaltig sie waren.

Dann passierten zwei ungeplante Vorgänge:

Mein Enkel (11) kam auf mich zu und bat mich um ein Interview über den Nebelspalter. Er hatte das Thema im Wahlfach «Politik» gewählt und wollte allerlei über Satire und für ihn unverständliche Artikel und Zeichnungen wissen. Na immerhin, das lässt ja mal hoffen.

Dann plötzlich war mein aktuelles Exemplar verschwunden. Ich fand es zerfleddert und zerrissen auf dem Balkon, wo mein Urenkel (4) begeistert Papierflieger damit faltete. Bevor ich mit ihm schimpfen konnte, erklärte er mir stolz, dass dieses das beste Papier dafür wäre. Er nahm seine Papier-Mirage in die Hand, stiess sie in die Luft und – tatsächlich – sie flog weit und lange und schraubte sich sogar kurz nach oben.

Na, wenn das mal nicht ein positives Signal ist?

Nebelspalter

Und die aktuelle Ausgabe.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Wolf Buchinger

Wolf Buchinger (*1943) studierte an der Universität Saarbrücken Germanistik und Geografie. Er arbeitete  25 Jahre als Sekundarlehrer in St. Gallen und im Pestalozzidorf Trogen. Seit 1994 ist er als Coach und Kommunikationstrainer im Management tätig. Sein literarisches Werk umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Fachbücher und Theaterstücke. Er wohnt in Erlen (TG).

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