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Interview mit Ralph T. Niemeyer

30 Jahre nach dem Mauerfall: Ein Insider erinnert sich

Der Journalist Ralph T. Niemeyer hat als Mitarbeiter des Deutschen Auslands-Pressedienstes den Mauerfall aktiv mitverfolgt. Und er formulierte die legendäre Frage an einer Pressekonferenz. Im Interview erinnert er sich an diese Zeit und gibt Einblicke in die tumulthaften Ereignisse.

Jörg Caluori am 12. November 2019

Als international tätiger Journalist waren sie damals sehr nahe an der DDR und deren Führung, wie waren ihre Kontakte zur damaligen DDR Führung?

Ralph T. Niemeyer: Ich hatte mit dem Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz mehrfach gesprochen und wusste von daher, dass die neue Reiseregelung erst ab dem 10. November 1989 gelten sollte, damit die Erinnerung an den 9.11.1938, an dem der Naziterror in Form der Reichspogromnacht offen ausbrach, nicht übertüncht würde. Egon Krenz ist schliesslich Antifaschist. Er hatte am Morgen des 9.11.1989 zwei Beamte des Innenministeriums angewiesen, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten, welches vom Ministerrat der DDR beschlossen werden und am 10.11.1989 verkündet werden sollte.

Wie haben sie die Zeit vor dem 9. November 1989 erlebt?

Niemeyer: Ich war seit 1987 immer wieder in der DDR und hatte auch Kontakte zu Oppositionellen vom Demokratischen Aufbruch und Neuen Forum. Beim evangelischen Kirchentag 1987 traf ich auch mal den Pfarrer und späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck, der auf mich aber einen dubiosen Eindruck machte, da er wie ein Agent Provocateur die Bürgerrechtler einerseits anheizte und ihnen Kirchenräumlichkeiten anbot, andererseits mahnte, die Forderungen nach Demokratie sollten nicht den Sozialismus als Staatsform in Frage stellen. Die 'echten' Bürgerrechtler hatten Angst vor Unterwanderung durch die Stasi und zwar mit Recht, wie man schon bald nach der Wende anhand der vielen Ex-Bürgerrechtler, die als IM Spitzel enttarnt wurden, feststellen konnte. Gauck wurde von vielen argwöhnisch beäugt, auch wegen seiner Privilegien, mitsamt Familie in den Westen reisen zu dürfen.

Was lief hinter den Kulissen damals alles ab in der DDR?

Niemeyer: Zugleich fand in der SED ein von Gorbatschow's Glasnost und Perestroika eingeleiteter Prozess statt, der die Möglichkeit der Aufgabe der DDR in Betracht zog. Eine Gruppe von jüngeren Parteifunktionären auf mittlerer Ebene betrieb im Schatten des Politbüros die Auflösung der DDR. Die bis zu 2400 SED Kader trafen sich in vielen konspirativen Gruppen unter anderem in der Akademie der Wissenschaften oder in Räumen unter dem Hauptbahnhof. Tarnname war 'Lysakus' und der 'Plan Saigon', so genannt nach der Möglichkeit eines militärischen Rückzuges der Sowjetunion aus der DDR ähnlich wie die Aufgabe der USA in Südvietnam aus mehr oder weniger freien Stücken, nahm im Frühjahr Kontur an. Die angeblich spontane Aufdeckung der Manipulationen der DDR-Kommunalwahl war Teil der Strategie, um die Opposition zu stärken und zugkeich zu unterwandern, um dadurch die Kontrolle zu behalten. Auch die berühmte Wohnwagenflucht durch Ungarn im Sommer 1989 wurde von 'Lysakus' und der Stasi ausgelöst, anders wäre es nicht erklärbar, dass die DDR-Bürger erst vier Monate, nachdem die Grenze aufgemacht wurde, auf die Idee kamen, zu fliehen.

Sie haben einen der Hauptprotagonisten das SED-Politbüromitglied Günther Schabowski persönlich gekannt, wie war Ihr Eindruck von ihm und der damaligen SED Führung?

Niemeyer: Schabowski hatte ich schon länger im Verdacht, sein eigenes Süppchen zu kochen. Er wirkte so eitel und hielt sich wohl für den Gorbatschow der DDR, indem er keine Gelegenheit ausliess, Krenz in den Schatten zu stellen, indem er eloquent mit der Westpresse flirtete. Gegenüber dem ansonsten grau wirkenden Politbüro erschie er wie ein Medienstar, obwohl auch er Krawatten mit drei abgestuften Grautönen trug.

Was denken Sie war damals der wirkliche Auslöser, dass die DDR endlich die Mauer öffnen wollte?

Niemeyer: Die Frage war schon spätestens seit der Grossdemo vom 09. Oktober 1989 in Leipzig nicht mehr, ob die DDR Grenzen öffnen würde, sondern bloss noch wann und wie. Krenz wollte dies geordnet stattfinden lassen, Schabowski hatte offensichtlich einen anderen Plan und konspirierte mit westlichen Geheimdiensten, wie wir heute wissen. Der Westberliner Senat hatte am 29.10.1989 nach Aussagen des Bürochefs des regierenden Bürgermeisters Walter Momper von Schabowski den 9.11.1989 als Termin für die Maueröffnung vorgeschlagen bekommen. Die Senatsverwaltung ordnete also dementsprechend Sonderschichten beim Nahverkehr und der S-Bahn für die Nacht an und stellte sicher, dass genügend 100-DM-Scheine bereitgehalten würden, damit jeder sein Begrüssungsgeld bekommen könnte. Mein früherer Chef, der NBC Anchorman Tom Brokaw, reiste aus den USA an und liess die Bundespost beauftragen, einen Übertragungsmast auf die Westseite des Brandenburger Tors am Morgen des 9.11. aufzustellen. Die Stasi beobachtete dies alles und notierte eifrig. Von Stasi-Chef Mielke ist überliefert, dass er den Berichten seiner Agenten ausgerechnet dann nicht geglaubt haben soll, als diese einmal verwertbare und zutreffende Informationen lieferten. Er soll gebrüllt und gestampft haben wie ein Stier und alle aus dem Büro geworfen haben.

An der ominösen Pressekonferenz vom 9. November waren Sie dabei, wie lief das ab?

Niemeyer: Eigentlich war die Pressekonferenz eine reine Selbstdarstellungsbühne für Schabowski, der sich langatmig mit aufgesetztem staatsmännischem Gehabe über Demokratie und Pressefreiheit in der DDR ausliess, als wäre er nicht selber als Chefredakteur des 'Neuen Deutschland' für den Personenkult um Honecker verantwortlich gewesen. Bis zehn Minuten vor Ende der Liveübertragung waren wir Journalisten bemüht, nicht einzuschlafen. Dann fragte plötzlich Riccardo Ehrmann etwas vermurkst nach einer neuen Reiseregelung. Ich war schlagartig hellwach und wunderte mich, woher er davon wissen konnte. Jahre später gab er im MDR zu, dass er vor der Pressekonferenz einen Anruf von ADN-Chef Pötschke bekommen hatte, der ihn aufforderte, danach zu fragen. Deshalb hatte er sich auch so gut sichtbar auf den Rand des Podiums gesetzt.

Was danach geschah, war der berühmte Teil der historischen Pressekonferenz, wie lief das ab?

Niemeyer: Schabowski spielte plötzlich seine Rolle des trotteligen Bürokraten, und die Nachfragen der Kollegen brachten zunächst keine Klärung, weshalb ich dann rief, «ab wann tritt das in Kraft?». Mein Unterton war mit der Intention versehen, dass Schabowski sich zu besinnen und vorzulesen hatte, dass es sich um einen Entwurf handelte, der mit einer Sperrfrist bis 4 Uhr Früh des 10. November versehen war. Mir war bewusst, dass es eben nicht ein gültiges Gesetz sein konnte und ich fürchtete, dass Chaos entstehen würde, und da die Grenzer erst ab 4 Uhr informiert würden alles erdenklich Schlimme passieren konnte. Schabowski liess sich aber nicht beirren und beharrte auf der Falschmeldung, die er wohl in Umlauf bringen sollte. Natürlich musste er so tun, als sei es ein Missverständnis, aber er war hochintelligent und politisch erfahren, immerhin cool genug sich von Tom Brokaw auf Englisch interviewen zu lassen.

Ralph Niemeyer

Ralph T. Niemeyer.

Sie haben die alles entscheidende Frage an Schabowski gestellt: «Ab wann tritt das in Kraft?». Bekanntlich antwortete Schabowski mit: «Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich...»

Niemeyer: Erst 25 Jahre später, als der Kollege vom Wall Street Journal mir die kompletten Tonspuren von der Pressekonferenz zur Verfügung stellte, fiel mir auf, dass Aussenhandelsminister Gert Beil, der neben Schabowski sass, diesem den Satz ins Ohr zischte «das muss der Ministerrat erst noch beschliessen!». Im Saal konnten wir das damals nicht hören, aber die Mikrophone am Podium hatten es aufgezeichnet. Offensichtlich fand ein Machtkampf statt zwischen dem Minister und Schabowski, der ja nur Pressesprecher war und weniger Befugnis hatte als ein Minister. Es war ein eiskalter Putsch.

Ihre entscheidende Frage und Schabowskis Antwort lösten also mit den darauffolgenden Sturm auf die innerdeutschen Grenzen aus, wie sehen Sie das heute 30 Jahre danach? War dies dann wirklich der Auslöser für den Mauerfall?

Niemeyer: Auslöser für die Grenzöffnung war sicher nicht die Pressekonferenz alleine, denn selbst in der DDR galten Recht und Gesetz, und niemand wäre aufgrund unseres verworrenen Schlagabtausches mit Schabowski auf die Idee gekommen die Grenze zu stürmen. Stellen Sie sich vor, ein übereifriger CDU/CSU-Generalsekretär verkündete, dass ab Mitternacht die PKW-Maut eingeführt werde. Da würde auch niemand zur Tanke fahren und sich eine Vignette kaufen. Nein, erst die Zusammenfassung der Falschmeldung durch ARD Tagesthemen durch Hans Joachim Friedrichs, wonach die DDR die Grenze geöffnet habe, brachte den Ansturm. Da es kein Blutvergiessen gab, gebührt ihm Anerkennung dafür, aber eigentlich hatte er ein grosses Risiko zu tragen. Hätte es Tote gegeben, wäre er mit Schabowski verantwortlich gewesen.

Sie gelten heute als der, der die alles entscheidende Frage an Schabowski gestellt hatten, weshalb erfährt man das erst viele Jahre später?

Niemeyer: Als ich mit Sahra (Wagenknecht deutsche Politikerin Fraktionschefin „Die Linke“, Volkswirtin und Publizistin) verheiratet war, hatte ich ihr meine Rolle nicht offenbart, da sie damals ja anders als heute der Wiedervereinigung sehr negativ gegenüberstand und der Mauerfall sie fast in Depressionen gestürzt hat. Ich wollte damals keinesfalls unsere Beziehung mit dieser Sache belasten. Heute reden wir viel offener über alles und sind noch immer freundschaftlich verbunden.

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Autor/in
Jörg Caluori

Jörg Caluori (*1953) ist freischaffend und wohnt in Niederbüren und Kapstadt.

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