Genau jene Kreise, welche Abtreibung geradezu als Menschenrecht sehen, bedienen sich selber sehr gerne traditionellem Ehe- und Familiendenken, wenn es um Erbrecht, Steuern und angebliche Frauengleichstellung geht. Eine Politanalyse.
Kürzlich war es wieder so weit. Wie jedes Jahr fand der „Marsch fürs Läbe“ statt, eine Kundgebung verschiedener abtreibungskritischer Organisationen. Und wie jedes Jahr gab es laute Störaktionen aus Linksaussenkreisen. Wobei auffällt, dass die Gegendemonstrierenden, welche mit Embryos relativ wenig Mitleid haben, selber irrationale Angst vor dem Tod zu haben scheinen, tragen diese doch auch ein halbes Jahr nach Aufhebung der Covid-Massnahmen weiterhin freiwillig an der frischen Luft Hygienemasken, wie auf diversen Medienbildern zu erkennen ist.
Voller Einsatz für das Grundrecht der Frau auf Abtreibung also. Dass es ein solches Grundrecht – abgesehen von sehr wenigen Härtefällen, jedenfalls nicht aber voraussetzungslos während der ersten 12 Wochen – nicht geben kann, wenn man davon ausgeht, dass Freiheit auch Verantwortung bedingt, hat der Autor dieser Zeilen im Zusammenhang mit dem US-Supreme-Court-Urteil bereits an früherer Stelle dargelegt.
Darum soll es im vorliegenden Beitrag aber auch nicht gehen. Interessant ist vielmehr, dass sich gerade selbsternannt „progressive“ Kreise der Linken überaus gerne traditionellem Familienrechtsdenken bedienen, wenn es darum geht, Gleichstellungsanliegen oder hohe Steuern durchzusetzen – was natürlich die Individualfreiheit schwächt.
Letzten Montag forderte der Autor dieses Beitrags nämlich mittels Einzelinitiative – welche theoretisch jede Bürgerin und jeder Bürger einreichen kann – im Zürcher Kantonsrat die Abschaffung der Erbschafts- und Schenkungssteuer für unverheiratete Konkubinatspaare.
Dies aus Überlegungen der Rechtsgleichheit, denn Ehepartner sind bereits heute umfassend von der Steuer befreit. Ausser rund der Hälfte der GLP sowie einzelnen VertreterInnen anderer Parteien stimmte jedoch niemand für den Vorstoss (KR-Nr. 269/2022). Nicht viel besser erging es vor einem halben Jahr der Einzelinitiative eines Zürcher Erbrechtsanwalts, die in eine ähnliche Richtung ging, zudem aber auch Erbschaften und Schenkungen an Stief- und Patenkinder grosszügiger behandeln wollte (KR-Nr. 432/2021).
Jeweils waren es (neben der SVP) ausgerechnet linke Kreise, welche an den bestehenden familiären Strukturen festhalten wollten bzw. sich einer zeitgemässen Rechtsetzung widersetzten. Auch die Linke ist also gerne traditionalistisch unterwegs, wenn dies der Staatskasse nützt.
Ein ähnliches Trauerspiel war die mutlose ZGB-Erbrechtsrevision auf nationaler Ebene, welche per Anfang 2023 endlich in Kraft tritt. Einzig der zum freiheitlichen Flügel der SVP gehörende Schwyzer Nationalrat Pirmin Schwander, welcher zu den KESB-Kritikern der ersten Stunde gehört und seine Partei auch vor den Gefahren eines staatlichen Machtausbaus im angeblichen Kampf gegen den Terrorismus (PMT) gewarnt hatte, hielt fest, dass man grundsätzlich die Verwandtenunterstützungspflichten wie auch die Pflichtteile restlos abschaffen und den BürgerInnen mehr Freiheit geben könne, wie diese ihr Testament gestalten dürfen.
Schliesslich wurde aber nur der elterliche Pflichtteil abgeschafft; Pflichtteile für Ehegatten und Kinder bestehen weiterhin. Von der Ratslinken wurde insbesondere mit der wirtschaftlichen Absicherung verwitweter Frauen argumentiert. Auch hier also wieder Traditionalismus im Interesse der Frauengleichstellung, wobei eine moralische Rechtfertigung für Pflichtteile als Eingriffe in die Testierfreiheit eines Erblassers nicht besteht. In der Tat ist es kaum einleuchtend, warum jemand nicht sein ganzes Vermögen der Greenpeace (statt seinen Angehörigen) vererben dürfen soll. Spätestens seit der selbstverschuldeten Energiemangellage sollte wohl jeder bzw. jedem klar sein, dass dies kaum allzu intelligent wäre. Aber zeichnet sich der Liberalismus nicht gerade dadurch aus, dass er die angeborene Freiheit priorisiert?
Dabei soll keineswegs der Eindruck entstehen, dass Familie und Traditionen grundsätzlich etwas Schlechtes wären. Ein zu einseitiger Fokus – und auch dies sehen wir im tagespolitischen Diskurs – auf tradierte Werte bewirkt allenfalls jedoch, dass man sogar noch ernsthaft Mitleid mit ausländischen Straftätern hat, die in niedrigstem Blutrachedenken Gewaltdelikte verüben und sich dann in Bezug auf ihre wohlverdiente Ausschaffung auf die Härtefallklausel berufen wollen. Ein weiteres Beispiel, warum es zentral ist, das Naturgesetz zu verinnerlichen, dass Freiheit ohne Verantwortung nicht geht – und dass umgekehrt überall Freiheit besteht, wo jemand Verantwortung übernimmt und niemanden ernsthaft gefährdet oder verletzt.
MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.
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