Die Klimaaktivisten sind sehr, sehr exakte Leute. Sie sagen uns nicht nur, dass das Ende der Welt droht, nein: Sie können uns sogar auf den Tag genau sagen, wann es soweit ist. Meine Bewunderung ist schier grenzenlos. Aber woher genau kommt diese Zahl eigentlich?
Wenn man sich im Jahr 2022 noch nie irgendwo festgeklebt oder festgebunden hat, ist man irgendwie nicht von dieser Welt. Jeder, der etwas von sich hält, sollte das mal getan haben. Schliesslich fällt man kaum auf, wenn man mit einem Transparent durch die Strassen geht. Kettet man sich hingegen vor einem Laden an, der gerade Ausverkauf hat, ist einem die Aufmerksamkeit sicher.
Das dachte sich wohl auch die Klimaaktivistin, die sich im Halbfinal des «French Open» (für alle Sportfernen wie mich: Das ist ein Tennisturnier) medienwirksam ans Netz gekettet hat. Damit sie sich mit ihrer wichtigen Botschaft nicht den Hals wund krähen musste, trug sie praktischerweise ein T-Shirt. Dieses teilte uns mit: «We have 1028 day left». Auf gut deutsch: «Uns bleiben noch 1028 Tage».
Früher wäre das eine eher rätselhafte Botschaft gewesen. 1028 Tage bleiben uns wofür bitte? Um endlich mal wieder zum Coiffeur zu gehen? Um noch schnell den Mount Everest zu besteigen, weil der in 1028 Tagen in sich zusammenfällt?
Aber heute ist sofort klar, was damit gemeint ist. Es muss sich um das Klima handeln. Seit Corona zur reinen alltäglichen Begleiterscheinung mutiert ist, haben wir ja nur noch die Klimathematik als Vorlage für die Apokalypse. Gut, die Affenpocken gibt es auch noch, aber die 700 gemeldeten Fälle weltweit haben noch nicht das Zeug zur Panikattacke. Da muss noch was gehen.
Natürlich war es das Klima. Die junge, selbstlose Dame wollte uns mitteilen, wie viel Zeit wir noch haben, wenn wir das Ruder nicht drehen. Sprich: Autos und Flugzeuge verschrotten und nur noch Gras essen, das wir gefälligst auch selbst gezüchtet haben.
Aber mit welcher Exaktheit sie das tun kann! Nicht 1027, nicht 1029, nein, genau 1028 Tage sind es, die uns noch bleiben, bevor wir alle bei lebendigem Leib verglühen.
Erstaunlich, wie feingliedrig die Wissenschaft inzwischen arbeitet. Man kann uns zwar nicht mal verlässlich sagen, ob das Wetter am übernächsten Wochenende eine Grillparty erlaubt, aber den sicheren Tod kann man auf fast drei Jahre hinaus verlässlich prognostizieren.
Ich werde neugierig. Warum genau 1028 Tage? Hat es mit der Zahl irgendeine Bewandtnis? Und in der Tat werde ich fündig. Die Zahl diente schon mal als Romantitel. «1028 Tage mit Andreas» hiess das Buch, erschienen 2019. Allerdings geht es darin nicht ums Klima, sondern um zwei glückliche Menschen, die heiraten, und wenig später ereilt den frisch gebackenen Bräutigam die Diagnose Knochenkrebs. Den beiden bleiben danach noch 1028 Tage.
Ohne das Buch gelesen zu haben: Die Beschreibung klingt sehr berührend. Ein menschliches Schicksal zwischen zwei Buchdeckeln, bei dem man mitleidet. Ein junges Glück viel zu früh zerstört.
Ob sich die Dame, die sich an ein Tennisnetz gekettet hat, dieses Buch als Vorlage genommen hat, um unser aller Schicksal zu beschreiben? Oder hat sie die 1028 Tage völlig unabhängig davon definiert, allenfalls dank Beratung durch den deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach, den König aller völlig zutreffenden Prognosen? Es muss offen bleiben.
Sicher ist nur: Für Weihnachten 2025 muss ich also keine Weihnachtsgeschenke mehr besorgen. Gut zu wissen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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