Alarm! In den ersten Kantonen sind mehr als die Hälfte der Intensivbetten mit COVID-19-Patienten belegt. Alarm! Im Jura sind alle Betten belegt. Alarm, Alarm. Oder nicht?
Mit Statistiken ist es meistens so eine Sache. Vor allem, wenn Prozentzahlen ins Spiel kommen. So ist eine Steigerung um 100 Prozent doch viel eindrücklicher als von 1 auf 2. Oder nicht?
Spielen wir mal die Corona-Kreische, immer aufgrund von Prozentzahlen des BAG. Im Kanton Jura ist die Intensivstation (IS) zu 100 Prozent belegt (alle Zahlen stand 5. Dezember). Kein freies Bett mehr. Das liegt vor allem daran, dass 66,7 Prozent aller Patienten an COVID-19 erkrankt sind! Das sind doch Zustände, vor denen Mediziner und Fachleute verzweifelt warnten und warnen.
Vielleicht hilft es zur Entwarnung, dass der Kanton Jura über genau 6 Betten in der IS verfügt. Von denen sind 4 mit COVID-19-Patienten belegt. Wobei nie differenziert wird, ob es sich um Ü-80-Jährige mit diversen Vorerkrankungen handelt oder nicht.
Noch fataler sieht es im Kanton Zug aus. Hier sind genau 50 Prozent der IS-Plätze mit COVID-19-Patienten belegt, lediglich 12,5 Prozent haben andere Symptome, die Intensivpflege benötigen. Also viermal mehr COVID, Alarm.
In absoluten Zahlen ist es so, dass 4 COVID-Patienten auf der IS liegen, ein Nicht-COVID, und 3 von insgesamt 8 Betten sind frei, was eine Auslastung von unterdurchschnittlichen 62,5 Prozent ergibt.
Im Kanton Aargau, der im SoBli skandalisiert wurde, liegt die Auslastung bei 87,2 Prozent, von total 47 Betten sind 6 frei, allerdings sind 21 Patienten mit COVID diagnostiziert, 20 nicht. Aber von einem Notstand ist auch dieser Kanton weit entfernt.
St. Gallen ist mit einer Auslastung von 75 Prozent unter dem Schweizer Durchschnitt von 78,7 Prozent, allerdings sind hier COVID-Fälle mit 19 zu 11 Betten deutlich in der Mehrheit. Der Thurgau ist zu 92,6 Prozent ausgelastet, wobei Nicht-COVID-Patienten mit 51,9 Prozent zu 40,7 immer noch in der Mehrheit sind.
Wem noch nicht die Augen vor lauter Zahlen flimmern: was für Schlussfolgerungen sind möglich und nötig?
– Prozentzahlen sind mit grosser Vorsicht zu geniessen. Wenn die Basiszahl für 100 Prozent 6 ist, kann man kaum von aussagekräftigen Angaben sprechen.
– Auch bei insgesamt 8 Intensivbetten macht es kaum Sinn, grosse Prozentrechnungen anzustellen.
– Intensivstationen halten immer nur eine möglichst kleine Reserve von freien Betten zur Verfügung – aus Kostengründen. Und in der Gewissheit, dass im Notfall die Zahl schnell gesteigert werden kann.
– Das alles ist fauler Zahlenzauber, zwecks Schreckung der Bevölkerung, zwecks Motivation zum Impfen oder Boostern.
Jenseits von diesen Zahlen, man kann es nicht häufig genug betonen, lauert der wahre Skandal. Der besteht darin, dass im zweitteuersten und möglicherweise besten Gesundheitssystem der Welt tatsächlich eine Knappheit an Intensivstationen existiert. Wohlgemerkt nicht an Betten oder Apparaten.
Aber ein mit modernster Technologie vollausgerüstetes Bett nützt schlichtweg null (in Zahlen 0), wenn es an Personal fehlt. Und überraschungsfrei braucht es für eine 24-Stunden-Intensiv-Betreuung einiges Personal. Das zudem über eine entsprechende Ausbildung verfügen muss.
Der Skandal besteht darin, dass alleine im Spitalbereich über 12'000 Pflegekräfte fehlen. Nicht erst seit gestern, auch nicht erst seit Ausbruch der Pandemie. Der Skandal besteht darin, dass die Spitäler in diese Krise sehenden Auges geraten sind.
Der Skandal besteht darin, dass es allen Verantwortlichen seit Jahren bekannt ist, dass es einen Pflegenotstand gibt. Dass die Arbeitsbedingungen herausfordernd, das Salär mehr als bescheiden ist. Dass die physischen und psychischen Belastungen durch eine Pandemie gesteigert werden.
Der Skandal besteht darin, dass diese Pflegekräfte überwiegend weiblich sind. Häufig Zweitverdiener, also auf das Einkommen nicht existenziell angewiesen. Was die Bereitschaft, unerträgliche Arbeitsbedingungen mit Kündigung zu quittieren, durchaus steigert.
Der Skandal besteht darin, dass der humanistische Ansatz des Helfens (ohne den nimmt man eine solche Arbeit, bei der man dermassen häufig dem Tod und schlimmsten Leiden begegnet, nicht auf sich) nun schon fast zwei Jahre missbraucht wird. Doppelschichten, Ferienverzicht, Appell an Solidarität und Hingabe.
Aber eine Kompensation durch Anerkennung (oberhalb von wohlfeilen Worten und dümmlichem Balkonklatschen) hat nicht stattgefunden.
Dabei sprechen auch hier die Zahlen eine eindeutige Sprache. Laut dem Bundesamt für Statistik beträgt der Durchschnittslohn aller Pfleger im Spital (damit ist auch die weibliche Mehrheit gemeint) – unabhängig von Qualifikation und Erfahrung – 6538 Franken. Nicht weiter qualifiziertes Pflegepersonal beginnt mit einem Monatslohn von 4729 Franken. Spezialisierte und diplomierte Fachkräfte mit 6600 Franken, Frauen bekommen 6538.-, Männer 6927.-. Ein kleiner Skandal im grossen.
Das steigert sich dann nach mehr als 20 Berufsjahren auf maximal 8699 Franken. Dabei ist nicht berücksichtigt, dass die Pfleger im Schnitt ein 75-Prozent-Pensum haben. Der Beruf soll emotional, psychisch und physisch anspruchsvoll sein, gestehen selbst Gesundheitsbürokraten ein.
Auch nach Annahme der Pflegeinitiative bleiben sich alle Verantwortlichen fürs Gesundheitssystem treu: wohlfeile Worte, Hinweise auf die langsamen Mühlen parlamentarischer Arbeit, markige Worte, wie viel Sorge man den Pflegekräften tragen solle und welche gigantische Arbeit die verrichten – aber Perspektiven, Abhilfe, wirksame Sofortmassnahmen? Null, nichts, nada.
Deshalb kann man es nicht oft genug wiederholen. Die Schweiz hat nicht zu wenig Intensivbetten, daran sind auch nicht in erster Linie die Ungeimpften schuld. Die Schweiz hat einen Pflegenotstand. Seit Jahren. Seit zwei Jahren verschärft. Das ist der wahre und einzige Skandal.
Zwei Jahre Covid-19. Und was haben die Verantwortlichen dagegen getan? Nichts. Wer meint, mit seiner Zustimmung zur Pflegeinitiative habe er einen ausreichenden Beitrag geleistet, irrt. Es braucht bessere Saläre, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Personal, weniger Bürokratie. Jetzt sofort. Heute, nicht morgen.
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