logo

Zeyer zur Zeit

Alarm und falscher Zahlenzauber

Alarm! In den ersten Kantonen sind mehr als die Hälfte der Intensivbetten mit COVID-19-Patienten belegt. Alarm! Im Jura sind alle Betten belegt. Alarm, Alarm. Oder nicht?

«Die Ostschweiz» Archiv am 08. Dezember 2021

Mit Statistiken ist es meistens so eine Sache. Vor allem, wenn Prozentzahlen ins Spiel kommen. So ist eine Steigerung um 100 Prozent doch viel eindrücklicher als von 1 auf 2. Oder nicht?

Spielen wir mal die Corona-Kreische, immer aufgrund von Prozentzahlen des BAG. Im Kanton Jura ist die Intensivstation (IS) zu 100 Prozent belegt (alle Zahlen stand 5. Dezember). Kein freies Bett mehr. Das liegt vor allem daran, dass 66,7 Prozent aller Patienten an COVID-19 erkrankt sind! Das sind doch Zustände, vor denen Mediziner und Fachleute verzweifelt warnten und warnen.

Vielleicht hilft es zur Entwarnung, dass der Kanton Jura über genau 6 Betten in der IS verfügt. Von denen sind 4 mit COVID-19-Patienten belegt. Wobei nie differenziert wird, ob es sich um Ü-80-Jährige mit diversen Vorerkrankungen handelt oder nicht.

Noch fataler sieht es im Kanton Zug aus. Hier sind genau 50 Prozent der IS-Plätze mit COVID-19-Patienten belegt, lediglich 12,5 Prozent haben andere Symptome, die Intensivpflege benötigen. Also viermal mehr COVID, Alarm.

In absoluten Zahlen ist es so, dass 4 COVID-Patienten auf der IS liegen, ein Nicht-COVID, und 3 von insgesamt 8 Betten sind frei, was eine Auslastung von unterdurchschnittlichen 62,5 Prozent ergibt.

Im Kanton Aargau, der im SoBli skandalisiert wurde, liegt die Auslastung bei 87,2 Prozent, von total 47 Betten sind 6 frei, allerdings sind 21 Patienten mit COVID diagnostiziert, 20 nicht. Aber von einem Notstand ist auch dieser Kanton weit entfernt.

St. Gallen ist mit einer Auslastung von 75 Prozent unter dem Schweizer Durchschnitt von 78,7 Prozent, allerdings sind hier COVID-Fälle mit 19 zu 11 Betten deutlich in der Mehrheit. Der Thurgau ist zu 92,6 Prozent ausgelastet, wobei Nicht-COVID-Patienten mit 51,9 Prozent zu 40,7 immer noch in der Mehrheit sind.

Wem noch nicht die Augen vor lauter Zahlen flimmern: was für Schlussfolgerungen sind möglich und nötig?

– Prozentzahlen sind mit grosser Vorsicht zu geniessen. Wenn die Basiszahl für 100 Prozent 6 ist, kann man kaum von aussagekräftigen Angaben sprechen.

– Auch bei insgesamt 8 Intensivbetten macht es kaum Sinn, grosse Prozentrechnungen anzustellen.

– Intensivstationen halten immer nur eine möglichst kleine Reserve von freien Betten zur Verfügung – aus Kostengründen. Und in der Gewissheit, dass im Notfall die Zahl schnell gesteigert werden kann.

– Das alles ist fauler Zahlenzauber, zwecks Schreckung der Bevölkerung, zwecks Motivation zum Impfen oder Boostern.

Jenseits von diesen Zahlen, man kann es nicht häufig genug betonen, lauert der wahre Skandal. Der besteht darin, dass im zweitteuersten und möglicherweise besten Gesundheitssystem der Welt tatsächlich eine Knappheit an Intensivstationen existiert. Wohlgemerkt nicht an Betten oder Apparaten.

Aber ein mit modernster Technologie vollausgerüstetes Bett nützt schlichtweg null (in Zahlen 0), wenn es an Personal fehlt. Und überraschungsfrei braucht es für eine 24-Stunden-Intensiv-Betreuung einiges Personal. Das zudem über eine entsprechende Ausbildung verfügen muss.

Der Skandal besteht darin, dass alleine im Spitalbereich über 12'000 Pflegekräfte fehlen. Nicht erst seit gestern, auch nicht erst seit Ausbruch der Pandemie. Der Skandal besteht darin, dass die Spitäler in diese Krise sehenden Auges geraten sind.

Der Skandal besteht darin, dass es allen Verantwortlichen seit Jahren bekannt ist, dass es einen Pflegenotstand gibt. Dass die Arbeitsbedingungen herausfordernd, das Salär mehr als bescheiden ist. Dass die physischen und psychischen Belastungen durch eine Pandemie gesteigert werden.

Der Skandal besteht darin, dass diese Pflegekräfte überwiegend weiblich sind. Häufig Zweitverdiener, also auf das Einkommen nicht existenziell angewiesen. Was die Bereitschaft, unerträgliche Arbeitsbedingungen mit Kündigung zu quittieren, durchaus steigert.

Der Skandal besteht darin, dass der humanistische Ansatz des Helfens (ohne den nimmt man eine solche Arbeit, bei der man dermassen häufig dem Tod und schlimmsten Leiden begegnet, nicht auf sich) nun schon fast zwei Jahre missbraucht wird. Doppelschichten, Ferienverzicht, Appell an Solidarität und Hingabe.

Aber eine Kompensation durch Anerkennung (oberhalb von wohlfeilen Worten und dümmlichem Balkonklatschen) hat nicht stattgefunden.

Dabei sprechen auch hier die Zahlen eine eindeutige Sprache. Laut dem Bundesamt für Statistik beträgt der Durchschnittslohn aller Pfleger im Spital (damit ist auch die weibliche Mehrheit gemeint) – unabhängig von Qualifikation und Erfahrung – 6538 Franken. Nicht weiter qualifiziertes Pflegepersonal beginnt mit einem Monatslohn von 4729 Franken. Spezialisierte und diplomierte Fachkräfte mit 6600 Franken, Frauen bekommen 6538.-, Männer 6927.-. Ein kleiner Skandal im grossen.

Das steigert sich dann nach mehr als 20 Berufsjahren auf maximal 8699 Franken. Dabei ist nicht berücksichtigt, dass die Pfleger im Schnitt ein 75-Prozent-Pensum haben. Der Beruf soll emotional, psychisch und physisch anspruchsvoll sein, gestehen selbst Gesundheitsbürokraten ein.

Auch nach Annahme der Pflegeinitiative bleiben sich alle Verantwortlichen fürs Gesundheitssystem treu: wohlfeile Worte, Hinweise auf die langsamen Mühlen parlamentarischer Arbeit, markige Worte, wie viel Sorge man den Pflegekräften tragen solle und welche gigantische Arbeit die verrichten – aber Perspektiven, Abhilfe, wirksame Sofortmassnahmen? Null, nichts, nada.

Deshalb kann man es nicht oft genug wiederholen. Die Schweiz hat nicht zu wenig Intensivbetten, daran sind auch nicht in erster Linie die Ungeimpften schuld. Die Schweiz hat einen Pflegenotstand. Seit Jahren. Seit zwei Jahren verschärft. Das ist der wahre und einzige Skandal.

Zwei Jahre Covid-19. Und was haben die Verantwortlichen dagegen getan? Nichts. Wer meint, mit seiner Zustimmung zur Pflegeinitiative habe er einen ausreichenden Beitrag geleistet, irrt. Es braucht bessere Saläre, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Personal, weniger Bürokratie. Jetzt sofort. Heute, nicht morgen.

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
«Die Ostschweiz» Archiv

«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.