Kürzlich sorgte der ehemalige Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen ein weiteres Mal für eine Kontroverse im Thurgauer Kantonsrat. Für die eine ist Roland Kuhn ein Pionier mit grossen Verdiensten, für andere missbrauchte er seine Macht.
Träume seien der Königsweg zum Unbewussten, hielt der Begründer Psychoanalyse, Sigmund Freud, um 1900 fest. In ihnen widerspiegeln sich innere Konflikte, verdrängte Wünsche und prägende Erlebnisse.
Gemäss psychoanalytischer Lehre wählt die Psyche die Symbolsprache der Szenen im Schlaf, weil die entsprechenden Themen für die träumende Person sehr belastend, peinlich und verstörend wirken. Im Traum können sich beispielsweise unterdrückte Wut und auch erotische Wünsche ausdrücken. Im Traum darf man ungestraft unanständig, lasterhaft und sogar kriminell sein.
Einblicke ins Seelenleben
Man stelle sich vor, man erzählt seinem Vorgesetzten, man habe ihm letzte Nacht im Traum ein Messer in den Rücken gerammt oder sich an seiner Intimregion zu schaffen gemacht.
Derartige Auskünfte forderte der ehemalige ärztliche Direktor der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen. Er verlangte ab den fünfziger Jahren von einigen Mitarbeiterinnen in der Pflege, dass sie ihm ihre nächtlichen Träume offenbaren.
Roland Kuhn (1912- 2005) war zu Lebzeiten ein hochangesehener Psychiatrieprofessor, dem mehrere renommierten Preise verliehen wurden. Sein Prestige gründete durch seine Zufallsentdeckung des ersten Medikamentes gegen Depressionen 1957.
Ruhm verblasste
Posthum stellte sich heraus, dass der grossgewachsene hagere Mann als Oberarzt und später als Chefarzt in der Klinik am Bodenseeufer Medikamentenversuche im grossen Stil ausführte. Diese Experimente waren ethisch und juristisch sehr umstritten. Sie machten Kuhn zum Multimillionär und brachte der Pharmaindustrie fette Gewinne ein. Auch seine Frau, ebenfalls Psychiaterin, wirkte an den Forschungen mit.
Mindestens 2789 Patientinnen und Patienten waren von dieser fragwürdigen Forschung betroffen; es wird eine hohe Dunkelziffer vermutet. Kuhn betonte stets seine Motivation, im Interesse der Erkrankten zu handeln, ob diese dies auch so sahen, bleibt offen.
Von 1946 bis in die achtziger Jahre verordnete Kuhn verschiedene Präparate zu Forschungszwecken, oft ohne vorherige Information und Einwilligung der Patienten oder deren gesetzliche Vertreter. Juristisch war dies lange zulässig, ethisch sehr fragwürdig. Ob er sich stets an die Grundregel des Arztberufs «primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare», übersetzt «erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen» hielt, ist fraglich.
26 Patienten starben nach Einnahme der entsprechenden pharmazeutischen Erzeugnisse; ob es einen ursächlichen Zusammenhang gibt, ist unklar.
Eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern hat im Auftrag der Thurgauer Regierung von 2016 – 2019 das umstrittene Wirken des Arztes durchleuchtet und aufgearbeitet.
In der Folge drückte der Regierungspräsident des Kantons Thurgau öffentlich sein Bedauern für die damaligen Zustände in Münsterlingen aus. Einige seiner Vorgänger pflegten enge private Kontakte zu ihrem Mitarbeiter Roland Kuhn. Eigentlich hätten sie als Vorgesetzte seine Tätigkeit kritisch überwachen müssen.
Problematisches Rollendilemma
Sozusagen als Nebenerkenntnis der Aufarbeitung der Münsterlinger Vergangenheit zeigte sich, dass Kuhns Froscherdrang auch vor dem Privatesten, den Träumen, einiger Mitarbeiterinnen keinen Halt kannte.
Dies war und ist problematisch: Die entsprechenden Pflegefachfrauen standen in einem hierarchischen Verhältnis zu ihrem obersten Vorgesetzten, Träume sind etwas sehr Intimes. Eine mangelnde Trennung Privatem und einem Arbeitsverhältnis führt unweigerlich zu einer problematischen Vermischung von unterschiedlichen Interessen der Beteiligten. Zudem wurden die Träume von Kuhns Sekretärin abgetippt. Sie war damit Mitwisserin von innersten seelischen Regungen von Frauen, die den gleichen Arbeitsplatz wie sie hatten.
Kuhn wirkte in einer Zeit, als das Schlagwort der «Götter in Weiss» noch zutreffend war. Das Verhalten oder die Meinung eines Chefarztes in Frage zu stellen, galt als ungehörig. Kuhn galt als sehr autoritär, mehrere damalige Mitarbeitende beschreiben ein Klima der Angst, das in der Klink geherrscht habe. «Die Klinik wurde mit eiserner Hand geführt», erinnert sich ein damaliger Assistenzarzt.
Skepsis als Widerstand verkannt
Kuhn hat zum Teil mit Mitarbeitenden auch psychotherapeutische Gespräche geführt. Damit wird die Rolle der Beteiligten noch schwammiger. Immerhin kamen dabei auch private Erfahrungen zur Sprache, die man nicht unbedingt einem Vorgesetzen anvertrauen will.
Eine Mitarbeiterin sprach den diesbezüglichen inneren Spagat gegenüber ihrem Chef, der zeitweise zugleich auch ihr Therapeut war, an, Kuhn interpretierte ihre Bedenken als Widerstand gegen seien Behandlung.
Der Chefarzt probierte auch an einzelnen Mitarbeiterinnen Medikament im Teststadium aus, ohne sie mit den nötigen Informationen zu versorgen. Er sah erklärtermassen einen Vorteil darin, Mitarbeitende medikamentös zu behandeln, er konnte ihr entsprechendes Verhalten im Klinikalltag beobachten. Immerhin war das Areal der damaligen Kantonale Thurgauischen Heil- und Pflegeanstalt durch hohe Zäune von der Aussenwelt abgeschlossen, diese laborartige Situation dürfte Kuhn entsprochen haben.
Probleme auf Mitarbeitende abgeschoben
Insbesondere in den sechziger Jahren fiel in der Klinik viel Arbeit, es herrschte zudem Personalmangel. Einige Pflegende zeigten Symptome von Überbelastung. Ihre Gereiztheit und Nervosität deutete ihr Chef als depressive Symptomatik. Mit Medikamenten und mit Therapie könne man sie arbeitsfähig halten, kommunizierte der Psychiater gegenüber der Thurgauer Regierung.
Nicht in den strukturellen Mängeln der Klinik sah er das Problem, sondern in der zu wenig belastbaren Psyche seiner Mitarbeitenden.
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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