Ukrainerinnen monierten kürzlich in der Sonntagspresse, dass die Schweiz im Vergleich zu ihrem Heimatland bürokratisch und erschreckend undigitalisiert sei. Stimmt das? Das Beispiel eines Einbürgerungsprozesses im Kanton St.Gallen unterstützt die Vorwürfe der Ukrainerinnen. Ein Erfahrungsbericht.
Die von der Sonntagszeitung zum Nationalfeiertag befragten geflohenen Ukrainerinnen waren erstaunt: Die Schweiz sei im Vergleich zur Ukraine erstaunlich wenig digitalisiert und furchtbar bürokratisch. Hier bringe der Briefträger doch tatsächlich noch Briefe aus Papier und das beinahe täglich. In der Ukraine würde alles auf dem elektronischen Weg laufen. Briefe werden per E-Mail verschickt, Werbung sowieso und für die Behördengänge gibt es ein App.
Diese Aussagen wiederum dürften manchen Schweizer mit einschlägigen Erfahrungen mit der osteuropäischen Bürokratie erstaunt haben: Wurden wir da in den letzten Jahren tatsächlich klangheimlich überholt, digital überrundet und aufs Abstellgleis gestellt? Hinken wir – aus für welchen Gründen auch immer – der Digitalisierung hinterher?
Kann durchaus sein, wie nachfolgendes Beispiel zeigt: Herr B. aus B. mit Schweizer Pass wollte sich in seiner st.gallischen Wohngemeinde einbürgern lassen. Wer nun denkt, das sei mit einem willensbekundenen E-Mail erledigt, täuscht sich gewaltig. Auf der Webseite der Gemeinde sind noch nicht einmal die zu erfüllenden formellen Voraussetzungen transparent dargestellt. Auf Anfrage beim Einbürgerungsrat erfuhr Herr B. aus B. lediglich, dass diese erfüllt und nun ein Formular auszufüllen sei. Dieses umfasste vier Seiten und wurde ihm auf Papier (und per Post) zugestellt.
Es galt, die üblichen Personalien und Angaben zu Beruf und Arbeitgeber einzutragen, ein Passfoto (!) aufzukleben (!), die bisherigen Wohnorte aufzuführen, drei Referenzpersonen anzugeben und eine ganze Reihe an Dokumenten beizulegen: ein Bewerbungsschreiben, einen Lebenslauf, Wohnsitzbescheinigungen aller bisherigen Wohnorte – die musste man telefonisch oder online (welch Glück!) bestellen und bekam sie dann per Post auf Papier zugeschickt (und bezahlte für jeden einzelnen 20 und mehr Franken) – eine Wohnsitzbescheinigung (als ob die Wohngemeinde nicht wüsste, ob und dass Herr B. in B. wohnt…) und eine Ausweiskopie.
Das satte Päcklein aus reichlich Papier reichte Herr B. aus B. dann zuhanden des Einbürgerungsrats ein und wurde alsbald zu einem lediglich zweimal jährlich stattfindenden persönlichen Gespräch eingeladen. Dieses verlief dem Vernehmen nach kurzweilig und in freundschaftlicher Atmosphäre. Die Verfügung flatterte ein paar Tage (auf Papier und per Post) ins Haus und kostete 450 Franken. Nun musste das Päckli (aus Papier) mitsamt dem positiven kommunalen Entscheid (per Post) in den Kantonshauptort geschickt werden. Dort sandte man Herrn B. aus B. (per Post) als allererstes eine Rechnung über 300 Franken. Vor deren Begleichung war man in St.Gallen nicht gewillt, das Dossier (aus Papier) auch nur in die Hand zu nehmen.
Bis zum gratulierenden Brief der zuständigen Regierungsrätin, der auf Papier und per Post verschickt wurde, gingen nochmals mehr als zwei Monate ins Land. Das hätte auch durchaus bis zu einem Jahr dauern können, wurde Herrn B. aus B. bescheinigt, weil der kantonale Einbürgerungsrat schliesslich nicht täglich tage…
Nun zurück zu den eingangs erwähnten Ukrainerinnen und ihrer scharfen Beobachtung zur bürokratisch-papiernen Schweiz: Der Fall des Herrn B. aus B. dürfte kein Einzelfall sein und ja, in Behördengängen gibt es durchaus noch digitales und prozesstechnisches Optimierungspotenzial. Ob es gleich ein Ministerium für Digitalisierung wie in der Ukraine sein muss, ist eine Frage, die in den zuständigen Räten diskutiert werden muss. Wahrscheinlich gestützt auf unzählige Studien und Analysen, die auf Papier gedruckt und per Post verschickt werden…
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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