Nach Altdorf, Schaffhausen und Rapperswil wird nun auch in Wettingen eine Anti-Massnahmen-Demo verboten. Die dafür angeführte Begründung im Beschwerdeentscheid des Regierungsrats Aargau ist rechtsstaatlich bedenklich.
Es ist wirklich besorgniserregend. Gestützt auf die verfassungsmässigen und epidemienrechtlichen Kompetenzen erlässt der Bundesrat seit einem Jahr Notverordnungen zur Bekämpfung eines Virus mit Mortalität im Promillebereich. Letztmals gab es in der Schweiz – erst recht für eine derart lange Zeitdauer – im Zweiten Weltkrieg vergleichbar intensives Notrecht.
Dies geht dem Bundesrat aber offenbar nicht weit genug. Am 13.06.2021 stimmen wir über das dringliche Covid-19-Gesetz ab, dessen Einleitungsartikel zum Ausdruck bringt, dass jenes Gesetz auch Massnahmen zulässt, welche im Epidemiengesetz (EpG) nicht vorgesehen sind beziehungsweise darüber hinausgehen (Zwecksetzung nach Art. 1 Abs. 1 Covid-19-Gesetz). Dies bringt verständlicherweise Leute auf die Strasse, die für ihre angeborenen Freiheitsrechte sowie eine offene Debatte über den bundesrätlichen Notrechtskurs kämpfen. Elementar für die freie Meinungsbildung – könnte man meinen.
Die Behörden sehen dies seit Mitte März (nach den bewilligten Grossdemos in Wohlen, Chur und Liestal) indessen anders. Systematisch werden in diversen Kantonen Bewilligungen verweigert bzw. notrechtskritische Demos verboten. Zunächst im Urner Altdorf, dann der Widerruf einer bereits erteilten Bewilligung in Schaffhausen, zu Beginn dieser Woche aufs Neue in Rapperswil, das eine Kooperation mit dem Verein „Stiller Protest“ wegen „Vertrauensbruch“ für nicht aussichtsreich hält. Gestern Mittag eröffnete sodann der Regierungsrat Aargau seinen Beschwerdeentscheid, worin er den Entscheid Wettingens stützte und festhielt, die einwohnermässig zweitgrösste Stadt im Kanton Aargau habe dem ABAZ (Aktionsbündnis Aargau-Zürich) für den 08.05.2021 zurecht die Durchführung einer Anti-Massnahmen-Kundgebung verboten.
Seinen Entscheid begründete der Regierungsrat im Wesentlichen damit, dass der Veranstalter keine Vorkehrungen treffen wolle, damit die Maskenpflicht eingehalten werde. Mit Blick auf das ärztliche Berufsgeheimnis sowie den Patientendatenschutz ist dies kaum nachvollziehbar. Private Helfer des veranstaltenden Vereins sind weder verpflichtet noch überhaupt berechtigt, den medizinischen Zustand ihrer Kundgebungsteilnehmenden (auf öffentlichem Grund) zu kontrollieren, da sie über keine polizeilichen Befugnisse verfügen. Dies hatte das ABAZ bereits in seinem Veranstaltungsgesuch entsprechend festgehalten, was dem Regierungsrat Aargau aber offenkundig egal ist. Doch dieser geht noch weiter: Zudem sei bei einer derart grossen Teilnehmerzahl die Einhaltung der Maskenpflicht nicht mit verhältnismässigem Polizeihandeln umsetzbar, weshalb das Demonstrationsverbot das einzige und ergo verhältnismässige Mittel sei, um geltendes Recht durchzusetzen.
Dies muss man sich nun zuerst auf der Zunge zergehen lassen: Der Regierungsrat Aargau anerkennt, dass eine Maskenpflichtverletzung – als reines Ordnungsbussendelikt, sofern denn überhaupt eine genügende Rechtsgrundlage besteht – objektiv nicht schwer genug wiegt, als dass man deswegen mit Wasserwerfern und Tränengas einschreiten könnte. Daher könne man nur mit einem Totalverbot der Kundgebung reagieren. Dies, während man einen 1.-Mai-Umzug nicht verbieten müsse, denn gegen Gewalttäter und Sachbeschädiger (schwerere Delikte) kann man härter vorgehen als gegen Maskenverweigerer, die – wenn überhaupt – andere Leute abstrakt gefährden. Was nichts anderes bewirkt, als dass im Ergebnis friedliche Demonstrationen eher verboten werden. Denn gegen leichte Rechtsverletzungen kann die Polizei keine Schlagstöcke einsetzen, also lässt man die Leute lieber präventiv zu Hause. Zu Sachbeschädigungen bereite Demonstrierende kann man aber auf die Strasse lassen, denn gegen diese sind Reizgas oder Wasserschlauch zulässig. Kann dies ernsthaft der Weisheit letzter Schluss sein? Seit wann ist die Schlechterbehandlung friedlicher Personen verhältnismässig?
Die Argumentation des Regierungsrats ist nach dem Gesagten rechtlich alles andere als unproblematisch. Im Vorfeld zum Entscheid hatte der Zürcher Rechtsprofessor Andreas Glaser gesagt, die Behörden hätten durchaus Spielraum gegenüber einem Totalverbot. Eine grundrechtsorientierte Haltung ist bei den Behörden aber aktuell Mangelware.
Transparenz: Der Autor hat das ABAZ im Beschwerdeverfahren vor dem Regierungsrat Aargau vertreten. In die anderen Fälle war er nicht involviert.)
MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.