logo

Rechtsstaatlich bedenklich

Anti-Notrecht-Demos: Je friedlicher, umso verbotener?

Nach Altdorf, Schaffhausen und Rapperswil wird nun auch in Wettingen eine Anti-Massnahmen-Demo verboten. Die dafür angeführte Begründung im Beschwerdeentscheid des Regierungsrats Aargau ist rechtsstaatlich bedenklich.

Artur Terekhov am 01. Mai 2021

Es ist wirklich besorgniserregend. Gestützt auf die verfassungsmässigen und epidemienrechtlichen Kompetenzen erlässt der Bundesrat seit einem Jahr Notverordnungen zur Bekämpfung eines Virus mit Mortalität im Promillebereich. Letztmals gab es in der Schweiz – erst recht für eine derart lange Zeitdauer – im Zweiten Weltkrieg vergleichbar intensives Notrecht. 

Dies geht dem Bundesrat aber offenbar nicht weit genug. Am 13.06.2021 stimmen wir über das dringliche Covid-19-Gesetz ab, dessen Einleitungsartikel zum Ausdruck bringt, dass jenes Gesetz auch Massnahmen zulässt, welche im Epidemiengesetz (EpG) nicht vorgesehen sind beziehungsweise darüber hinausgehen (Zwecksetzung nach Art. 1 Abs. 1 Covid-19-Gesetz). Dies bringt verständlicherweise Leute auf die Strasse, die für ihre angeborenen Freiheitsrechte sowie eine offene Debatte über den bundesrätlichen Notrechtskurs kämpfen. Elementar für die freie Meinungsbildung – könnte man meinen.

Die Behörden sehen dies seit Mitte März (nach den bewilligten Grossdemos in Wohlen, Chur und Liestal) indessen anders. Systematisch werden in diversen Kantonen Bewilligungen verweigert bzw. notrechtskritische Demos verboten. Zunächst im Urner Altdorf, dann der Widerruf einer bereits erteilten Bewilligung in Schaffhausen, zu Beginn dieser Woche aufs Neue in Rapperswil, das eine Kooperation mit dem Verein „Stiller Protest“ wegen „Vertrauensbruch“ für nicht aussichtsreich hält. Gestern Mittag eröffnete sodann der Regierungsrat Aargau seinen Beschwerdeentscheid, worin er den Entscheid Wettingens stützte und festhielt, die einwohnermässig zweitgrösste Stadt im Kanton Aargau habe dem ABAZ (Aktionsbündnis Aargau-Zürich) für den 08.05.2021 zurecht die Durchführung einer Anti-Massnahmen-Kundgebung verboten.

Seinen Entscheid begründete der Regierungsrat im Wesentlichen damit, dass der Veranstalter keine Vorkehrungen treffen wolle, damit die Maskenpflicht eingehalten werde. Mit Blick auf das ärztliche Berufsgeheimnis sowie den Patientendatenschutz ist dies kaum nachvollziehbar. Private Helfer des veranstaltenden Vereins sind weder verpflichtet noch überhaupt berechtigt, den medizinischen Zustand ihrer Kundgebungsteilnehmenden (auf öffentlichem Grund) zu kontrollieren, da sie über keine polizeilichen Befugnisse verfügen. Dies hatte das ABAZ bereits in seinem Veranstaltungsgesuch entsprechend festgehalten, was dem Regierungsrat Aargau aber offenkundig egal ist. Doch dieser geht noch weiter: Zudem sei bei einer derart grossen Teilnehmerzahl die Einhaltung der Maskenpflicht nicht mit verhältnismässigem Polizeihandeln umsetzbar, weshalb das Demonstrationsverbot das einzige und ergo verhältnismässige Mittel sei, um geltendes Recht durchzusetzen.

Dies muss man sich nun zuerst auf der Zunge zergehen lassen: Der Regierungsrat Aargau anerkennt, dass eine Maskenpflichtverletzung – als reines Ordnungsbussendelikt, sofern denn überhaupt eine genügende Rechtsgrundlage besteht – objektiv nicht schwer genug wiegt, als dass man deswegen mit Wasserwerfern und Tränengas einschreiten könnte. Daher könne man nur mit einem Totalverbot der Kundgebung reagieren. Dies, während man einen 1.-Mai-Umzug nicht verbieten müsse, denn gegen Gewalttäter und Sachbeschädiger (schwerere Delikte) kann man härter vorgehen als gegen Maskenverweigerer, die – wenn überhaupt – andere Leute abstrakt gefährden. Was nichts anderes bewirkt, als dass im Ergebnis friedliche Demonstrationen eher verboten werden. Denn gegen leichte Rechtsverletzungen kann die Polizei keine Schlagstöcke einsetzen, also lässt man die Leute lieber präventiv zu Hause. Zu Sachbeschädigungen bereite Demonstrierende kann man aber auf die Strasse lassen, denn gegen diese sind Reizgas oder Wasserschlauch zulässig. Kann dies ernsthaft der Weisheit letzter Schluss sein? Seit wann ist die Schlechterbehandlung friedlicher Personen verhältnismässig?

Die Argumentation des Regierungsrats ist nach dem Gesagten rechtlich alles andere als unproblematisch. Im Vorfeld zum Entscheid hatte der Zürcher Rechtsprofessor Andreas Glaser gesagt, die Behörden hätten durchaus Spielraum gegenüber einem Totalverbot. Eine grundrechtsorientierte Haltung ist bei den Behörden aber aktuell Mangelware.

Transparenz: Der Autor hat das ABAZ im Beschwerdeverfahren vor dem Regierungsrat Aargau vertreten. In die anderen Fälle war er nicht involviert.)

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Artur Terekhov

MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.