St.Gallen ist Textilstadt. Und hat mehr zu bieten, als man auf den ersten Blick vermutet - auch heute noch. Das zeigt ein Streifzug durchs textile Erbe der Stadt.
Textilstadt St.Gallen? Auf den ersten Blick deutet kaum etwas im Strassenbild darauf hin. Keine glitzernden Luxusstores, keine Fashion Week, welche die Blogger an sich zieht wie das Licht die Nachtfalter. Erstaunlich prächtig zeigt sich hingegen die Architektur. Altstadthäuser entlang der Spisergasse übertreffen sich gegenseitig mit ihren kunstvoll verzierten Erkern, auf dem Rosenberg reihen sich opulente Jugendstilvillen aneinander, Geschäftshäuser entlang der Davidstrasse lassen erahnen, dass um die vorvergangene Jahrhundertwende Big(ger) Business stattgefunden haben muss. Und Bahnhof sowie die benachbarte Hauptpost fallen erstaunlich gross aus, gemessen an einer Stadt mit heute annähernd 80’000 Einwohnern.
Textilbauten
An einigen Gebäuden regen gestickte QR-Codes zu genauerem Erkunden an: Während besagte Erkerhäuser Zeugnis eines schwunghaften Leinwandgeschäfts im 14. bis 17. Jahrhundert geben, gehen die Jugendstilbauten auf die Stickereiblüte um 1900 zurück, als aufgrund des glücklichen Zusammentreffens technischer Entwicklungen mit modischem Zeitgeist Ostschweizer Stickereien einen Sechstel des gesamtschweizerischen Exportvolumens ausmachte. Stickereien sind übrigens keineswegs gleichzusetzen mit Spitze. Während dieses Material seine Struktur durch originär verflochtene Fäden erhält, werden Stickereien auf einen textilen Untergrund aufgebracht. Bei der Guipure- oder auch Ätzstickerei wird dieser Untergrund im Nachhinein ausgewaschen, um die einst viel teureren Spitzen maschinell zu imitieren. Längst überflügelten die Stickereien ihre einstige Inspiration und entwickelten sich zum eigenständigen Luxusprodukt. Dieser Erfolg manifestierte sich in repräsentativen Firmensitzen mit klangvollen Namen wie Oceanic oder Washington, Kathedralen der Mobilität und Wohnbauten, mit deren Gestaltung namhafte Architekten beauftragt wurden. Weniger offen(er) sichtlich signalisiert die Bischoff Textil AG an der Bogenstrasse mit dem ersten Hochhaus St.Gallens eine Vorstellung von Progressivität und Wachstum der späten 1950er Jahre.
Textile Architektur zeigt sich auch mit dem Forum Würth in Rorschach, wo die unternehmerische Kunstsammlung zu einem Besuch einlädt. Die spiegelnde Hightech- Fassade, die ihr Gesicht mit der Witterung und den Launen des Bodensees wechselt, ist Produkt eines heute führenden Branchensegments: technische Textilien. Die Erfolgsgeschichte von Sefar in Thal begann 1833 mit seidenen Mehlsieben. Was wie ein Lifestyle- Produkt der Hipster-Community klingt, entstammt dem Streben der Eliten nach Weissmehl, dessen Herstellung extrem feine Filter verlangte. Vor der Erfindung von Endlos-Synthetikfasern konnten nur Seidenfäden solches leisten.
Eine Frage der Technik
Auch in modernen Geräten verbergen sich Textilien – ob in Handy-Mikrophonen, als Partikelfilter im Auto oder in der Medizin, wo Wundauflagen Heilungspotenziale eröffnen, die nur durch Stickerei erreicht werden, und lebenserhaltende Geräte ohne Hightech-Stoffe nicht funktionieren würden. Viele dieser Produkte stammen aus Ostschweizer Unternehmen. Unabdingbar sind daher eine ständige Erforschung und Erprobung innovativer Materialien, welche die Empa (Eidgenössische Materialprüfungsanstalt) in Kooperation mit den produzierenden Unternehmen durchführt. Doch auch im sicht- und spürbaren Bereich zeigt sich oftmals nur eine geringe Ausprägung des textilen Bewusstseins – das «Feeling» verdankt sie den Stoffen, aus denen sie gefertigt wird.
Jenseits serieller Massenware, die sich in amorpher Gleichgültigkeit über die Körper schnäppchenjagender Konsumentinnen und Konsumenten legt, «lebt» hochwertige Mode von den Stoffen, aus denen sie gefertigt ist. Deren Design erfordert ein Maximum an kreativer DNA, die, weil nicht «eben rasch» erlernbar, von einer jahrhundertealten kulturellen Verankerung profitiert. Nicht zufällig geht das Textildesign der Konfektion jeweils eine Saison voran und bietet Inspiration für die daraus gefertigten Kleider. Immer steht der Prozess der Veredelung zwischen dem Entstehen des Stoffs und dem verarbeitbaren Produkt. Wer strickt, weiss, dass die fertigen Teile erst durch Anfeuchten ihre Form erhalten. Gleichermassen wird edles Kaschmir durch Waschungen zur Perfektion gebracht. Der Glanz von Chintz-Stoffen entsteht durch Kalandrieren – als gewollte Form des durch Reibung glänzenden Hosenbodens. Flanellhemden erhalten durch Aufrauen ihr kuscheliges Finish, und die zeitsparende Annehmlichkeit bügelfreier Baumwollhemden ist einer speziellen Ausrüstung zu verdanken. Für all diese Prozesse steht die AG Cilander in Herisau.
Zwischen Tradition und Avantgarde
Bei aller bisweilen geradezu disneyisierter Tradition, deren angeblicher Untergang mit der Textilkrise in den 1920er Jahren beklagt wird, lohnt sich ein intensiver Blick auf St.Gallens textile Gegenwart. Einen Bogen spannt (nomen ist nicht immer omen) das Textilmuseum, dessen wechselnde Ausstellungen jeweils von aktuellen Bezugspunkten und einer saisonalen «Vision» Schweizer Stoffe begleitet sind. Nach wie vor warten textile Hotspots darauf, entdeckt und gespürt zu werden. Das international renommierte Modelabel Akris hält aus Überzeugung am Standort St.Gallen fest, wo kaum vermutet werden kann, welch namhafte Kreationen hier entstehen – und in der Boutique erstanden werden können.
«International» gestaltet sich auch das Modelabel aéthérée von Ly-Ling Vilaysane, einer Appenzellerin mit laotischen Wurzeln und Studium in Paris, die in ihrem Atelier Kleinstserien von detailverliebter Schönheit entwirft. «Filmreif» präsentiert sich ihre Arbeit durch ihre Kooperation mit Cosimo Urgesi: Regisseur Giancarlo Moos begleitete die beiden in dem Prozess, italienische Feinmasskunst auf progressive Designs zu transferieren. Kultureller Cross-over begegnet einem auch mit Silk’ N’ Tea, wo Carrie Sum-Waldmeier kostbare chinesische Seiden- und Kaschmirstoffe zu individuellen Modellen mit klassischen asiatischen Details fertigt und dazu erlesene Tees aus China und Japan anbietet. St.Galler Stickereien stellen demgegenüber einen Schwerpunkt der «Manufaktur» dar. Karin Bischoff und Kathrin Baumberger schneidern auf Mass. Zwischen Kollektion und Einzelfertigung bewegen sich die minimalistischen «Slow Fashion»-Modelle von Janine Grubenmann. Und dass erstens Röcke und zweitens solche aus Pailletten und Co. von Alltag bis Festtag eine perfekte Figur machen, beweist das St.Galler Label Ici Maintenant.
Und ewig lockt der Stoff
Tuchfühlung mit den Stoffen, die nicht wegzudenken sind von Haute Couture, Prêt-à-porter und Lingerie internationaler Modehäuser, bieten Fabrikläden der hiesigen Unternehmen: Der Jakob Schlaepfer Shop lockt mit einem Meer aus Pailletten, Lasercut und Stickerei. Der ab August 2019 erweiterte Fabrikladen der Bischoff Textil AG bietet ebenso St. Galler Stickereien von Guipure bis Broderie anglaise wie die datierten Fabrikverkäufe bei Forster Rohner. Dem Bedürfnis nach Cocooning in luxuriösen vier Wänden kommt Christian Fischbacher mit Bett- und Nachtwäsche sowie Interieurtextilien entgegen. Mit Füssen getreten und gerade deswegen wertgeschätzt werden die Produkte von Tisca Tiara – ob als Kunstrasen mit grobstolligen Fussballschuhen oder wohlig barfuss auf wunschgefertigten Wollteppichen.
Monika Kritzmöller hat ihre Leidenschaften zum Beruf gemacht. Ob Mode und Textilien, Architektur oder Automobile: In ihrem Forschungs- und Beratungsinstitut «Trends + Positionen» geht sie Lebensstilen und Alltagskultur auf den Grund.
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