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Wie altert man richtig?

Autor Linus Reichlin: «Ich versuche, nichts mehr auf die lange Bank zu schieben»

Der erfolgreiche Schriftsteller Linus Reichlin ist in Wil aufgewachsen, mittlerweile lebt er in Berlin. In seinem AHV-Alter beschäftigt er sich mit dem aktuellen gesellschaftlichen Umgang mit der dritten Lebensphase.

Adrian Zeller am 18. September 2023

Linus Reichlin, gemäss Studien wurden die Menschen bei relativ guter Gesundheit noch nie so alt wie heute. Was jedoch die Liebe im Alter angeht, sind Sie gemäss einem NZZ-Essay skeptisch, wie kam es dazu?

Meine Skepsis gegenüber «Liebe im Alter» bezieht sich natürlich nicht z.B. auf ein Paar, bei dem die beiden Partner sich schon viele Jahre oder sogar Jahrzehnte kennen, und die sich nun, im Alter, immer noch lieben. Skeptisch bin ich hingegen, wenn «Liebe im Alter!» fast als Befehl daherkommt. In den Medien wird oft das Bild des «Aktiven Senioren» zum Idealbild erhoben, und mit «aktiv» ist eigentlich «jugendlich» gemeint: Sport treiben, Tanzen gehen, sich mit 80 nochmal verlieben. Es steht natürlich jedem alten Menschen frei, sich möglichst noch wie ein Jugendlicher zu verhalten - aber ich persönlich möchte das nicht tun. Das Alter ist eine spezielle Lebensphase mit speziellen Bedürfnissen und Wünschen, die eben oft gerade nicht mit Aktivität und neuer Liebe zu tun haben, sondern mit Zur-Ruhe-Kommen.

Heute sind 80-Jährige mit dem Camper unterwegs, sie verbringen ihren Lebensabend nicht im Schaukelstuhl. Müssen wir die gesellschaftlichen Vorstellungen von Seniorinnen und Senioren überdenken?

Viele 80-Jährige verbringen ihr Leben aber im Schaukelstuhl: Weil es gesundheitlich oft gar nicht mehr anders geht. Im Camper unterwegs sein können nur die, denen keine Hüftoperation bevorsteht. Ja, wir müssen die gesellschaftlichen Vorstellungen von Seniorinnen und Senioren überdenken, das ist ganz leicht. Wir müssen nur akzeptieren, dass alte Menschen eben genau das sind: Alt. Und Altsein heißt für viele, weniger Energie zu haben als früher, mehr gesundheitliche Probleme zu haben und an vielem nicht mehr so interessiert zu sein wie früher. Das ist kein Makel. Es ist nichts, wogegen man etwas tun muss. Sondern es sind einfach die Bedingungen des Altseins.

Wie gehen Sie mit dem eigenen Älterwerden um?

Ich versuche vor allem, nichts mehr auf die lange Bank zu schieben. Früher sagte ich mir: «Oh, ich möchte so gern die Hälfte des Jahres in einer warmen Gegend leben. Irgendwann werde ich es tun.» Jetzt sage ich mir, dass «irgendwann» jetzt ist. Wenn man älter wird, sollte man die Dinge, die man noch tun möchte, jetzt tun, so lange es gesundheitlich noch möglich ist. Also reise ich viel und halte mich so oft wie möglich in warmen Gegenden auf. Und ich versuche, den Energieverlust, den ich spüre, zu akzeptieren. Ich werde schneller müde, brauche für manches mehr Zeit: Na und! Dann ist es eben so. Ich bin fast schon so weit, dass ich wirklich akzeptiere, dass ich auf dem Weg zum Seniorentum bin.

Sie leben in Berlin, wie geht es den älteren Menschen in dieser multikulturellen und kreativen Stadt?

Multikulturell und kreativ ist heutzutage auch jeder Kindergarten. Und Berlin ist in gewisser Hinsicht einer. Man kann hier natürlich auch als älterer Mensch leben, denn man lebt ja nicht in Berlin sondern in einem bestimmten Stadtteil, und diese Stadtteile unterscheiden sich stark voneinander. In den einen leben z.B. mehr erlebnishungrige Junge, in den anderen mehr ruhebedürftige Alte, und da die Stadtteile groß sind, kommt man sich kaum in die Quere. Dennoch ist die Frage, ob eine Stadt mit fast vier Millionen Einwohnern das Richtige ist für einen älteren Menschen. Viele Berliner zwischen 60 und 70 zieht es deshalb ins ländliche Umland, nach Brandenburg. Es herrscht starke Nachfrage nach so genannten «Datschen», Wochenendhäuschen auf dem Land. In kleinen Dörfern ist der Arzt gleich um die Ecke, und man muss nicht eine Stunde fahren, um Freunde zu besuchen.

Was beschäftigt Sie derzeit als Autor?

Ich denke - um beim Thema zu bleiben - tatsächlich über ein Buch über das Altsein nach, denn wir haben es ja mit einer sozusagen historischen Situation zu tun. Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren so viele Leute gleichzeitig alt wie jetzt in den westlichen und asiatischen Gesellschaften. Wir wissen überhaupt nicht, was da auf uns zukommt, denn es gibt ja keine Erfahrungswerte. Es ist ein Blindflug. Ich finde, das ist faszinierend und ein wenig beängstigend zugleich. Nur schon der Tourismus verändert sich gerade völlig, weil so viele Pensionierte ausserhalb der üblichen Schulferienzeiten jetzt verreisen. Die Preise für Wohnmobile sind enorm gestiegen. In amerikanischen Staaten wie Florida und Arizona verändert sich durch den massenweisen Zuzug von Rentnern aus nördlicheren Staaten die ganze politische Landschaft. So gesehen ist das Altsein plötzlich etwas ungeheuer Dynamisches.

Können Sie sich vorstellen, je wieder in der Ostschweiz sesshaft zu werden?

Eher nicht. Ich habe aus familiären Gründen eine starke Verwurzelung im Tessin, so dass ich, falls ich überhaupt aus Berlin wegziehen würde, mich dann in der Gegend um Lugano niederlassen würde. Es gibt dort Orte, mit denen ich heute noch meine Großeltern und meine Mutter in Verbindung bringen kann, das sind also recht starke heimatliche Gefühle. Und außerdem ist mir das Klima im Südtessin lieber als das in der Deutschschweiz.

Berlin

Fotos: David Biene; Pixabay

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Adrian Zeller

Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.

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