Der Arboner Stadtpräsident zieht nach Anfeindungen den Schlussstrich. Was muss man sich in diesem Amt alles gefallen lassen?
Andreas Balg hat genug. Der 54-jährige Arboner Stadtpräsident tritt im Februar 2019 nicht mehr zu Wiederwahl an. Er kommunizierte dies nur wenige Tage vor dem Ende März zum dritten Mal durchgeführten «Respektfest» in Arbon. Ein Zufall. Aber durchaus der passende Zeitpunkt, wenn man sich Balgs Argumentation zu Gemüte führt. «Er möchte seiner Familie und seinen Freunden nicht mehr länger die Widrigkeiten und Anfeindungen, die dieses Amt in der Öffentlichkeit in Arbon mit sich bringt, zumuten», erklärte der FDP-Politiker. Er habe zunehmend den Eindruck gewonnen, dass er nicht im gleichen Masse das zurückbekomme, was er in das Amt investiere. Balg vermisst den Respekt und die Anerkennung.
Spricht hier endlich einer das aus, was Sache ist? Und setzt mit seinen offenen Worten und den gezogenen Konsequenzen ein klares Signal? Oder hat der ehemalige Thurgauer Wirtschaftsförderer das Amt unterschätzt? Ist er gar zu dünnhäutig?
Ab nach Kenia
Einer, der die Eindrücke und Aussagen von Balg überhaupt nicht teilt, ist Matthias Müller, Gemeindepräsident von Gachnang. Auch er wird nach dieser Amtsperiode nicht mehr kandidieren, allerdings nicht aus Frust, wie er sagt, sondern weil er diesen April das 65. Altersjahr erreicht hat. Man dürfe die gemachten Erfahrungen von Balg nicht als Massstab nehmen. Sonst würden künftig kaum mehr fähige Personen für das Gemeindepräsidium Interesse zeigen. Müller relativiert seine sanfte Kritik jedoch: «Es ist für mich natürlich relativ einfach, von meinem Job zu schwärmen, habe wir doch in Gachnang innerhalb des Gemeinderates, den Kommissionen und der Verwaltung bestes Einvernehmen.» Und auch Drohungen sei er bisher noch nie ausgesetzt gewesen, höchstens «leichten Beschimpfungen». «Einmal wurde ich als ‚gschämige’ Gemeindepräsident betitelt, den man nach Kenia schicken sollte», lacht Müller. Seit seinem Amtsantritt 1998 hätten sich der Umgangston und das Verhalten gegenüber Amtspersonen generell aber schon verändert. Habe man früher, als der Gemeindepräsident zum Teil noch mit ebendiesem Titel angesprochen wurde, vielleicht sogar zu grossen Respekt vor dem Mandatsträger gehabt, so mangle es heute häufig an diesem. Müller bezeichnet die Funktion als «Blitzableiter der Bevölkerung». Damit müsse man leben können. «Ist jemand zu dünnhäutig, sollte er sich nicht für eine solche Aufgabe zur Verfügung stellen», stellt Müller klar.
Delikate Grenze
Heidi Grau-Lanz, Gemeindepräsidentin in Zihlschlacht wurde schon telefonisch bedroht. Der Vorfall liege glücklicherweise schon lange zurück und habe sich nicht wiederholt. Wohl auch deshalb, weil sie umgehend gehandelt hat. Sie hat die entsprechende Person umgehend der Polizei gemeldet. Die Grenze zwischen Kritik und Anfeindung kann laut Grau-Lanz nicht klar gezogen werden. Sie sei von der Person, welche sich negativ äussere, vom Kontext und auch von der Häufigkeit abhängig. «Sobald aber Familienmitglieder oder Freunde mitbetroffen sind, wird es delikat.»
Zur Freude der Anwälte
Max Vögeli, Gemeindepräsident von Weinfelden, drückt es fussballtechnisch aus: «Was nicht geht, ist ‚auf den Mann zu spielen’.» Aber die Grenzen seien effektiv fliessender geworden. Dies führe auch dazu, dass bei Auseinandersetzungen – auch auf Sachgeschäfte bezogen – immer häufiger Anwälte beigezogen werden. «In der heutigen Zeit wird die Mitwirkung verschiedener Interessengruppen und Organisationen immer intensiver und fordernder gelebt. Als Konsequenz wird unsere Tätigkeit mehr hinterfragt und vom Egoismus Einzelner geprägt.»
Diese Entwicklung bestätigt auch Matthias Küng, Gemeindepräsident von Aadorf, der ebenfalls schon verbal angegriffen wurde. «Der Umgangston ist härter und schärfer geworden. Der Respekt gegenüber Amtspersonen war früher bedeutend grösser. Heute tanzt auch jeder gleich mit dem Anwalt an.»
Drohungen per Post
Seit fünf Jahren ist Susanne Hartmann als Stadtpräsidentin von Wil tätig. In dieser Zeit habe sich die Situation zwar nicht merklich verändert, Kollegen, welche schon längere Zeit im Amt sind, würden aber bestätigen, dass der Umgangston deutlich rauer geworden sei – seitens der Bevölkerung und in politischen Diskussionen. «Harte Kritik stört mich aber nicht, sofern sie konstruktiv ist und keine Grenzen überschreitet.» Diese Grenze zieht Hartmann allerdings relativ weit aussen. Sie sei für sie dann erreicht, wenn man «direkt mit dem Tod bedroht wird.» Damit wurde die Wilerin glücklicherweise nie konfrontiert. «Aber ich erhielt einige Male Post mit symbolischen Drohungen. In einem Fall handelte es sich um eine psychisch kranke Person. Ansonsten waren es insbesondere Drohungen im Zusammenhang mit der Eröffnung der Wiler Moschee», so Susanne Hartmann.
Kritik via soziale Medien
Bereits seit 19 Jahren im Amt ist Kurt Baumann, Gemeindepräsident von Sirnach. In dieser Zeit sei es erst einmal vorgekommen, dass er verbal bedroht wurde. «Im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit hatte ich schon schwierige Situationen zu bewältigen, insbesondere mit Personen in einer ‚ungünstigen’ persönlichen Verfassung. Da kann eine Ausfälligkeit oder eine Entgleisung passieren.» Und da würde auch Baumanns Toleranzgrenze hoch liegen. Er stelle jedoch keinen Trend fest, wonach Personen in öffentlichen Ämtern sich heute mehr gefallen lassen müssen, als noch vor einigen Jahren. Was sich jedoch verändert habe, seien die Methoden, wie Kritik geäussert wird. «Hier spielen vermehrt die sozialen Medien eine Rolle. Für Auseinandersetzungen und Kritik, welche über solche Kanäle ausgetragen werden, liegt nach meiner Einschätzung die Hemmschwelle tiefer als sie im persönlichen Umgang ist.»
«Wir müssen mehr ertragen»
Auch David Zimmermann, Gemeindepräsident von Braunau, machte schon unliebsame Erfahrungen mit Mitbürgern, welche psychische Probleme aufweisen. «Diese Drohungen muss man einordnen können, beziehungsweise dementsprechend handeln.» Die Anfeindung beginnt für Zimmermann grundsätzlich dann, wenn die sachliche Kritik verlassen wird und auf die persönliche Ebene fällt. Etwa mit Aussagen wie «Der Alte (Gemeindepräsident) war schon nichts, und der Junge ist dasselbe Übel.» Als Person in einem öffentlichen Amt stehe man aber zwangsläufig im «Schaufenster» und müsse sich mehr gefallen lassen. «Viele Kollegen haben schon versucht, eine Unterbindung auf dem Rechtsweg zu erlangen. Die Rechtsprechung geht aber dahin, dass wir Personen im öffentlichen Amt sind und folglich mehr ertragen müssen», so Zimmermann.
«Wie man in den Wald ruft…»
Schon massiv bedroht wurde Gallus Pfister, seit drei Jahren Gemeindepräsident von Heiden. «Die Drohung geschah mündlich in einem Gespräch unter vier Augen», erinnert er sich. «Mit Kritik kann ich leben, das ist kein Problem, doch Drohungen am Leib und Leben bringe ich umgehend zur Anzeige.» Bis auf diesen einen Vorfall hat Pfister am Umgang der Bevölkerung mit ihm als Behördenvertreter aber wenig auszusetzen. Die Umgangsformen in Heiden seien direkt und persönlich, aber respektvoll.
Und für Rolf Bosshard, Gemeindepräsident in Tobel-Tägerschen, gehören immer Zwei dazu. «So wie man in den Wald ruft, so sind unter Umständen die entsprechenden Reaktionen», führt er aus. «Man muss sich als Gemeindepräsident nicht alles gefallen lassen. Aber je nachdem wie man auf eine Kritik reagiert und kommuniziert, löst dies beim Gegenüber eine entsprechende Gegenreaktion aus.» So könne jede Person für ein gewisses Mass auch Einfluss auf den Kritiksteller ausüben und folglich beruhigend und positiv wirken.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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