Peter Graf ist Bereichsleiter Energie, Verkauf und Marketing bei den St.Galler Stadtwerken (SGSW). Im Interview spricht er über die Energiesituation, Energiepreise, die Abhängigkeit von russischem Gas und warum es trotz allem sinnvoll ist, bei einer Neuanschaffung auf ein Elektromobil zu setzen.
Herr Graf, wie angespannt ist die Energiesituation derzeit?
Die Lage in der Schweiz ist derzeit stabil, die Versorgungssicherheit gewährleistet. Insgesamt ist die Situation weniger angespannt als noch zu Beginn des Winters. Eine Verschlechterung der Situation kann aber weiterhin nicht ausgeschlossen werden, weshalb ein sparsamer Umgang mit Energie wichtig bleibt. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass in diesem Winter noch eine Energiemangellage eintritt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Beim Gas haben einige grosse Verbraucher mit Zweistoffanlagen von Gas auf Öl umgestellt. Zudem führte der milde Winter, aber auch die Sparbemühungen der Kundschaft zu einem tieferen Verbrauch. Auch international musste weniger Gas eingesetzt werden. Durch den stärkeren Einsatz der Kohlekraftwerke sowie wegen der besseren Verfügbarkeit des französischen Kernkraftwerkparks reduzierte sich die Notwendigkeit, mit grossen Gaskraftwerken Strom zu produzieren. Deshalb können die höheren LNG-Liefermengen (Red. liquified natural gas; dt. Flüssigerdgas) nach Europa den reduzierten Gasbedarf so gut abdecken, dass die Gasspeicher weiterhin überdurchschnittlich gut gefüllt sind. Auch die Schweizer Stauseen sind derzeit noch überdurchschnittlich gut gefüllt. In Summe entsteht dadurch eine stabile Situation. Es wäre jedoch zu früh, um eine vollständige Entwarnung zu geben. Es bleibt wichtig, den Gasbedarf in Europa geringer zu halten als üblich, da die LNG-Mengen die weggefallenen russischen Lieferungen noch nicht vollständig abdecken könnten. Und Vorsicht braucht es zumindest auch noch für den nächsten Winter. Würden die europäischen Gasspeicher am Ende dieses Winters zu stark entleert, könnte es schwierig werden, diese bis zum Beginn des nächsten Winters wieder ausreichend zu füllen. Die Bundesnetzagentur in Deutschland geht derzeit jedoch ebenfalls davon aus, dass der Füllstand bis Ende dieses Winters nicht unter 40 Prozent fallen wird. Aber auch für den nächsten Winter sollte der Gasbedarf tiefer als üblich ausfallen, damit auch im Winter 2023/2024 die Gefahr einer Energiemangellage reduziert werden kann.
Kann man eine Energiemangellage in diesem Winter also definitiv ausschliessen?
Wären nicht europaweit grosse Anstrengungen unternommen worden, um einerseits den Verbrauch zu senken und anderseits die LNG-Mengen zu erhöhen, hätte durchaus eine Energiemangellage eintreten können. Die Gefahr war real. Aufgrund der Effekte, die mit den umgesetzten Massnahmen erzielt worden sind, stufen wir die Situation nicht mehr als Krise ein, sondern als angespannte Lage.
Was würde eine Energiemangellage denn für die Stadt St.Gallen konkret bedeuten?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten, da eine Energiemangellage unterschiedlich ausgeprägt eintreten kann. Ist nur der Strom knapp, oder auch das Gas? Oder: Ist Gas knapp, aber Strom ausreichend verfügbar? Um eine Energiemangellage zu verhindern, gibt es im Sinne einer Eskalationskaskade verschiedene Schritte. Beim Gas sähe es so aus: Der Bund würde zuerst Sparappelle an die schweizerische Bevölkerung und Wirtschaft richten. Die derzeit laufende Sparkampagne des Bundes ist eine Vorstufe davon. Als nächster Schritt wären alle Zweistoffanlagen auf Öl umzustellen. Dann würden bestimmte, als nicht notwendig erachtete Verbrauchsanlagen verboten. Am Schluss würden sogenannt nicht geschützte Verbrauchsanlagen, darunter fällt z.B. die Industrie, kontingentiert. So wird sichergestellt, dass geschützte Verbrauchsanlagen, wie zum Beispiel die Heizungen für Wohnbauten, weiter mit Gas versorgt werden können.
Wie gross ist derzeit die Abhängigkeit der SGSW von russischem Gas?
Die SGSW selbst haben nach wie vor keine Verträge mit russischen Lieferanten abgeschlossen. Die Abhängigkeit der SGSW davon hängt jedoch direkt mit der europäischen Abhängigkeit zusammen. Die definitiven Zahlen liegen für das Jahr 2022 noch nicht vor, aber es ist davon auszugehen, dass Lieferungen von russischem Gas nach Europa mittlerweile deutlich weniger als 20 Prozent ausmachen. Mit den in Europa kürzlich in Betrieb genommenen, mit den sich im Bau befindenden und mit den geplanten LNG-Anlagen wird sich die Abhängigkeit weiter reduzieren.
Ist geplant, für russisches Gas alternative Bezugsquellen zu erschliessen?
Für den Winter 2022/2023 haben die SGSW norwegisches Gas eingekauft, um schnellstmöglich die aus Russland stammende Gasmenge zu reduzieren. Dabei war der Stadt St.Gallen wichtig, dass möglichst wenig Geld aus St.Gallen nach Russland fliesst. Da der Anteil an russischem Gas, das nach Europa fliesst, mittlerweile sehr stark gesunken ist, ist ein solch spezifischer Liefervertrag nicht mehr notwendig.
Im letzten Jahr sind die Energiepreise stark gestiegen; nun sinken sie wieder. Warum? An der geopolitischen Lage hat sich ja nicht wirklich viel verändert.
Die Preise am Energiemarkt bilden sich auf der Basis von Angebot und Nachfrage. Ist die Nachfrage grösser als das Angebot, steigen die Preise. Und genau dies ist geschehen. Das fehlende Gas sowie der unterdurchschnittlich verfügbare Kernkraftwerkpark in Frankreich haben die berechtigte Sorge ausgelöst, dass zu wenig Energie vorhanden sein könnte. Darauf haben die Marktpreise sofort reagiert. Angebot und Nachfrage bewegen sich mittlerweile wieder aufeinander zu. Die Sorge, dass für das Stillen der Nachfrage zu wenig Energie vorhanden sein könnte, ist geringer geworden. Dies widerspiegelt sich nun in tieferen Marktpreisen.
Wie sieht Ihre Preisprognose aus?
Diese Frage ist sehr schwierig zu beantworten. Sie hängt stark davon ab, wie sich die chinesische Wirtschaft entwickelt und daraus ableitend der weltweite LNG-Bedarf. Korrelieren die weltweiten LNG-Kapazitäten mit dem weltweiten LNG-Bedarf, dann werden sich die Marktpreise auf dem derzeit tieferen Niveau einpendeln. Ist der Bedarf grösser als das Angebot, wird sich dies wieder in der Veränderung der Marktpreise zeigen.
Ist der Kauf eines E-Autos derzeit ratsam?
Der Kauf eines Elektroautos ist auch in der aktuellen Situation sinnvoll. Ein Elektrofahrzeug wird viel effizienter betrieben als ein Auto mit Verbrennungsmotor, und ist deshalb aus einer Gesamtbetrachtung heraus Benzin- und Dieselfahrzeugen klar vorzuziehen. Wären alle Personenfahrzeuge in St.Gallen elektrisch unterwegs, würde sich der Stromverbrauch nur um 10 bis 15 Prozent erhöhen. Dafür wird mit dem stetigen Zubau bei der Fotovoltaik aber vor allem zwischen Frühling und Herbst genügend Energie vorhanden sein. Im Winter wird in St.Gallen die Wärme-Kraft-Kopplung den fehlenden Anteil der Fotovoltaik ersetzen. Zudem werden nicht alle Personenwagen auf einmal ersetzt; dieser Prozess wird 20 bis 30 Jahre dauern. Deshalb stelle ich die Sinnhaftigkeit der Elektromobilität auch in der momentan schwierigen Situation nicht infrage.
Wie sieht unsere Energiezukunft aus?
Für die nähere Zukunft: Eine Prognose ist schwierig, weil unklar ist, wie hoch die Füllstände der Gasspeicher in Europa nach diesem Winter 2022/2023 sein werden und ob deren Wiederbefüllung mit LNG möglich sein wird. Aufgrund der Annahme, dass die Füllstände nach diesem Winter nicht unter 40 Prozent sinken könnten, kann vermutlich im Laufe des Jahres 2024 mit einer weiteren Entspannung gerechnet werden. Für die weitere Zukunft arbeiten unter anderem die St.Galler Stadtwerke am Erreichen der Ziele aus dem Energiekonzept 2050 der Stadt St.Gallen. So gilt es, den ökologischen Umbau der Energieversorgung voranzutreiben. Die damit einhergehenden Herausforderungen liegen nicht nur bei der Bereitstellung erneuerbarer Energien, sondern auch bei den Versorgungsnetzen. Die Infrastruktur ist auf die neuen Anforderungen auszurichten. Dazu zählt unter anderem auch der wachsende Bedarf für Elektromobilität und Wärmepumpen sowie der Zubau von Fotovoltaikanlagen.
(Peter Graf hat die Fragen von «Die Ostschweiz» schriftlich beantwortet.)
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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