Ernst M.
Im Fall des Grossbrandes vom August 2015 auf einem ehemaligen Industrieareal in Horn wurde im Februar 2020 Anklage erhoben. Ein einzelner Mann wird vor Gericht stehen. Doch vielleicht ist nicht alles so einfach, wie es aussieht. Teil 1 unserer Serie.
Es ist Montag, 3. August 2015. Kaum jemand erinnert sich daran, wie ein bestimmter Tag vor fast fünf Jahren begann. Aber dieser Montag muss warm und freundlich gewesen sein. So warm und freundlich, dass es mehrere Leute schon in aller Früh an den See zog. Einer, weil er früh mit der Arbeit beginnen wollte. Ein anderer, weil er den Sonnenaufgang beobachten wollte. Das jedenfalls sagen die Akten im Ermittlungsbericht zum Grossbrand auf dem Raduner-Areal, welche «Die Ostschweiz» vorliegen. Es sind Details. Aber in einer komplexen Untersuchung wie dieser zählen auch sie. Und manchmal verdichten sie sich. Zur Wahrheit. Oder einer möglichen Wahrheit.
Um diese wird es bald gehen. Dann, wenn der mutmassliche Verursacher dieses Grossbrands vor Gericht steht. Am 14. Februar 2020 übermittelte die Staatsanwaltschaft Bischofszell die Anklageschrift gegen Ernst M. aus Kesswil. Ihm wird Brandstiftung und versuchter Betrug vorgeworfen. M. soll das Gebäude in Brand gesteckt haben, das ihm viele Jahre eine zweite Heimat war, um Geld von der Versicherung zu kassieren. Er bestreitet das. Er hat es immer bestritten. Kurz nach dem Brand hat er versucht, sich das Leben zu nehmen. Eine Art Schuldeingeständnis? Oder im Gegenteil die Verzweiflung darüber, dass man ihm die Tat zutraut?
Was ist geschehen? Am bewussten Morgen im August 2015 brach im ersten Stock der Halle 25B auf dem Raduner-Areal an der Seestrasse in Horn ein Feuer aus. Es breitete sich rasant aus und ging auf weitere Gebäude und Gebäudeteile über. Mehrere Hallen und das gesamte Inventar brannten völlig ab. Selbst eine Nachbarparzelle war betroffen. Der Schaden: Mehrere Millionen Franken.
Das Areal war damals ein Mikrokosmos mehrerer Firmen, einige davon im «Trödler-Bereich». Auch Ernst M. war betroffen, einerseits als Inhaber der Restpo AG, die hier Waren verkaufte, andererseits als Vermieter von Arealflächen an andere. Für M. waren seine Firma und der Standort mehr als ein Geschäft, er verbrachte die meiste Zeit dort und war für andere Mieter der «Papi» des Areals, wie es in den Akten heisst.
Ernst M.
Und ausgerechnet diese gute Seele des Areals bemerkte den Brand als Erster und verständigte die Feuerwehr. Ein Anruf, der ihn später noch lange verfolgen sollte. Schwarzer Rauch steige aus den Fenstern, meldete M. am Telefon. Der sei zu jenem Zeitpunkt aber weiss gewesen, werfen ihm die Ermittler später bei einer Einvernahme vor. Es ist eines von unzähligen Beispielen, in denen Ernst M. nicht präzis war oder sich in Widersprüche verwickelte. In denen er erklärt, etwas früher nicht so gesagt oder es anders gemeint zu haben. Oft macht es M. den Leuten, die ihn in die Mangel nehmen, sehr leicht, ihren Verdacht zu nähren.
Aber das Interesse der Ermittler an ihm ist nachvollziehbar. Denn Ernst M. war noch etwas anderes als der «Areal-Papi»: Er war versichert. Und er wollte seine Versicherungsleistungen nach dem Brand umgehend kassieren. 220'000 Franken hätte er erhalten. Die Versicherung zahlte nicht, weil zu viele Fragen offen waren. Fragen, in denen Ernst M. schnell im Fokus stand.
Der Lateiner fragt: Cui bono? – Wem nützt es?
Das ist eine Frage, die sich auch Ermittler stellen, und die waren früh überzeugt, dass es Ernst M. gewesen sein muss. Für seine Täterschaft spricht vor allem das finanzielle Motiv, das er hatte. Denn zu jenem Zeitpunkt stand er unter grossem Druck, er wäre gezwungen gewesen, seine Flächen auf dem Raduner-Areal in sehr kurzer Zeit zu räumen. Der «warme Abriss» mit Geld von der Versicherung war so gesehen praktisch.
Ein Motiv war also da, aber das ist ein Indiz, kein Beweis für eine Schuld. Ohnehin muss man von einem reinen Indizienprozess sprechen, der vor dem Bezirksgericht Arbon ansteht. Es gibt keinen felsenfesten Beleg dafür, dass Ernst M. das Feuer gelegt hat. Aber ein Gericht kann sich auch von Indizien überzeugen lassen, ohne dass ein lupenreiner Beweis vorliegt. Das ist immer wieder der Fall. Dann, wenn die Indizien zu deutlich sind, wenn sie eine logische Kette ergeben.
Dennoch überrascht es, dass die Untersuchungsbehörden nach dem Brand mehr als viereinhalb Jahre ermittelten und nun nur mit einer Indizienkette vor das fünfköpfige Gericht treten. Denn versucht hatten sie buchstäblich alles, um an Beweise zu kommen, und das über Jahre hinweg. 52 Tage sass Ernst M. in Untersuchungshaft. Sein Haus wurde durchsucht, seine Konten durchforscht, seine Telefonverbindungen rückwirkend überprüft, sein Telefon später in Echtzeit abgehört. Er wurde überwacht. Mal um Mal beantragten die Ermittler eine Verlängerung der Observationen. Sie zogen sich weit bis ins Jahr 2017, zwei Jahre nach dem Brand. Dazu kamen «technische Überwachungen», die in der Anklageschrift nicht näher ausgeführt werden. Das kann beispielsweise ein GPS-Sender an einem Auto sein.
Und ein Jahr nach dem Brand - ganz wie in einem TV-Krimi - begann eine verdeckte Ermittlung. Ein Undercover-Polizist erschlich sich das Vertrauen von Ernst M., baute eine Freundschaft auf und horchte den Verdächtigen aus. Letztmals bewilligt wurde die verdeckte Ermittlung im Januar 2018. Es war ein Langzeitprojekt von Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Undercover-Protokolle zeichnen das Bild eines Menschen, der von der Situation überfordert ist. Beweise liefern sie nicht. Ebenfalls nicht. Wenn Ernst M. den Brand gelegt hat, kann er es offenbar für sich behalten.
Es gibt Direktbetroffene des Brands, die zu Beginn noch fest überzeugt waren: Ernst M. hätte das niemals getan. Im Verlauf der über vier Jahre begann ihre Überzeugung zu wanken. Zu viel spricht für den 68-Jährigen als Täter. Aber völlig befriedigt sind auch sie nach der Anklageerhebung nicht. Ernst M. mag das Feuer gelegt haben, sagen sie – aber wer hat ihm die Zündhölzer gereicht? Denn der Trödel-Unternehmer hat in seinem Leben keine kriminelle Energie gezeigt, kaum jemand in seinem Umfeld traut ihm die Initiative zu. Gibt es also einen Auftraggeber? Eine Frage, die das Gericht nicht zu beantworten hat, nur Ernst M. steht vor den Schranken.
58'307 Franken und 5 Rappen kosteten die Untersuchungen gegen Ernst M., bis sich die Staatsanwaltschaft Bischofszell sicher war, nun Anklage erheben zu können. Sie fordert eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren plus Verfahrenskosten.
Aber die Untersuchungsakten deuten darauf hin, dass es auf die alte Frage «wem nützt es?» durchaus noch mehr Antworten gibt. Und dass Ernst M. vielleicht nur ein Bauernopfer ist.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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