Berlin – die Stadt, die niemals schläft, niemals aufatmet, niemals einsam ist. Eine Stadt, in der das Leben explodiert. Die Jugend boykottiert. Die Debatte sich nie akklimatisiert. Wo Ungleichheit dominiert.
Ein Ort, Jahrzehnte lang getrennt, west-von-ost, ost-von-west. Distanzen, nur in Metern gemessen, zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Zwei Welten auf fast 900 km2.
Gegensätzlichkeiten und Gefangenschaft im eigenen Land – das war Berlin.
Und heute, über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands? Wie geht es Berlin?
Im Frühling 2022 besuchte ich für einige Tage die Metropole. Ich wollte das Berlin erleben, von dem ich so viel gehört hatte. Aber es war nicht einfach nur ein Berlin, was ich fand. Es war so viel mehr, ein Ort in mehreren Kategorien. Berlin zeigte sich mir weder eindimensional noch eintönig noch einleuchtend.
Eine Stadt der Gegensätze: Das ist es, was ich entdeckte.
Ich fange mit einem Thema an, welches wahrscheinlich wenig Debatten auslöst: das Wetter. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Innerhalb weniger Minuten schlug es von strömendem Regen zu strahlendem Sonnenschein um. Natürlich ist dies kein alltägliches Phänomen, ich war wahrscheinlich einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um mit diesem Beispiel meinen Punkt zu untermauern. Aber schon hier fängt es an. Sogar das Wetter gehorcht dem gegensätzlichen Berlin.
Doch auch jenseits des Wetters zeigt Berlin sich oppositiv. Während die pompösen Bauten im Regierungsviertel fast den Anschein erwecken könnten, Berlin sei die reichste Stadt der Welt, bilden sich 15 Minuten weiter ausserhalb der Stadt Meere von Plattenbauten. Die Botschaften und Bundesämter bieten bemerkenswerte Anblicke und in den dreckigen Strassenecken der Blockviertel stapeln sich McDonalds-Verpackungen.
Zudem deckt Berlin kulturell die gesamte Spannbreite ab. Ich stattete berühmten Statuen einen Besuch ab, staunte über die Berliner Mauer, erforschte die Geschichte der SPD im Willy-Brandt-Museum und lief bedacht durch das Holocaust-Denkmal. Ich besuchte Orte, an denen ein Still-Sein äusserst angebracht war. Ich setzte mich mit Erinnerungen der deutschen Vergangenheit, mit unerklärlich schrecklichen Zeiten, auseinander.
Mit Tränen in den Augen las ich die Geschichten der Mauerflüchtlinge in der «Gedenkstätte Berliner Mauer». Ich informierte mich stumm und erschüttert am «Sinti und Roma Denkmal» über den «Porajmos», einen Völkermord der Nationalsozialisten, welcher ungefähr einer halben Million Menschen das Leben kostete.
Ich befand mich in einem fast betäubten Zustand, benebelt mit den tragischen Erinnerungen der deutschen Geschichte.
Und dann, nur ein paar Stunden später, befand ich mich alkoholisiert an der Spree, um mit meinen Freunden den lauen Abend zu geniessen. Jugendliche, die zu lauter Techno-Musik in die Luft sprangen. Junge Pärchen, die sich gegenseitig Rotwein in Pappbechern einschenkten. Meine Freunde, die grölten und tanzten und sich freuten.
Und ich mittendrin, gefangen zwischen Historie und Hysterie. Das ist Berlin.
Hier noch das Krönende zum Abschluss, sozusagen das Gelbe vom Ei. Kurz vor meiner Rückfahrt nach Hause entdeckte ich etwas, was das Berlin, das ich erlebt hatte, nicht hätte besser zusammenfassen können. Eine Imbiss-Bude, die zu fetttriefenden Pommes schäumenden Champagner reicht. Wo Fast-Food und Edel-Gut auf ein und derselben Speisekarte stehen. Wo es gegensätzlicher nicht sein kann. Das gibt es nur in Berlin. Das ist Berlin.
Lea Tuttlies (*2002) aus Amriswil studiert in Erfurt Internationale Beziehungen.
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