Die Verbrechen von Anselm Wütschert zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind auch aus heutiger Perspektive besonders grausam. Heute würden sich Kriminalexperten wohl brennend für seine Psyche und seinen Werdegang interessieren. Damals blieb ihm nur das Fallbeil.
Das Fallbeil, unter dem Anselm Wütschert starb. (Bild: Landus / Wikimedia)
Es war kein Start nach Mass, als Anselm Wütschert 1881 in Ruswil zur Welt kam. Glaubt man seinen eigenen Erzählungen, so folgte danach auch kaum ein glücklicher Tag. Er war das Kind eines Tagelöhners und einer Magd, der Vater verschwand, als Anselm vier Jahre alt war. Armut war vorprogrammiert.
Schon mit neun Jahren wurde Wütschert zum Verdingbub, und bis zu seinem Lebensende stand er als Knecht bei Bauern im Dienst. Es gab früh Anzeichen dafür, dass er eine sexuelle Störung aufwies. Er missbrauchte ein junges Rind, onanierte mit der Unterwäsche der Töchter des Haushalts und bediente sich selbst vom Urin aus deren Nachttöpfen. Bei Anselm Wütschert kamen gleich diverse Spielarten von Paraphilie zusammen, also sexuellen Neigungen, die nicht der verbreiteten Norm entsprechen. Eine Kombination, die wie gemacht war für die Entwicklung zum Triebtäter. Allerdings interessierte sich damals niemand dafür, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass man ihm Hilfe angeboten hätte.
«Geistige Beschränktheit»
Heute wäre er mit seinen Veranlagungen das Zentrum des Interesses der Wissenschaft. Doch im frühen 20. Jahrhundert reichte es vor Gericht nicht einmal für mildernde Umstände, nachdem Wütschert eine junge Frau getötet, verstümmelt und danach Geschlechtsverkehr mit der Leiche gehabt hatte. Die Tat führte man nicht auf seinen Geisteszustand und seine «Vorlieben» von frühester Jugend an zurück, sondern auf seine «Verkommenheit», an der er selbst die Schuld trage. Es half auch nichts, dass ihm bei der Rekrutenprüfung ein «bedeutender Grad an geistiger Beschränktheit» attestiert worden war.
Vieles an seiner Biografie erinnert an andere Verbrechen jener Zeit: Ein rastloser Herumtreiber, der trank, Bordelle besuchte und keine Arbeitsstelle lang halten konnte. Aber im Unterschied zu den meisten anderen Tätern ging es Anselm Wütschert nicht um das schnelle Geld, um den Alltag zu bestreiten – auch wenn er durchaus gelegentlich stahl, um zu überleben –, sondern um seine persönliche Befriedigung. Unter seinen Trieben litt er selbst am meisten, immer wieder dachte er daran, aus dem Leben zu scheiden, fürchtete sich aber vor dem Leidenskampf, der damit verbunden ist. Daraus entwickelte er die Fantasie, einen Mord zu begehen und dann mit der Guillotine hingerichtet zu werden – schnell und «sauber». Oder in seinen eigenen Worten aus der Vernehmung nach der Verhaftung: Es wäre «gleitiger», auf diese Weise zu sterben.
Getötet, um getötet zu werden
In den Monaten vor der Tat – mitten im kalten Winter – setzte sich der Herumtreiber in einen Wald ab und lebte von gelegentlichen Diebstählen auf Bauernhöfen. Es gibt wenige Sichtungen von ihm aus jener Zeit. Am 16. Mai 1914 eskalierte das, was ihn schon lange umtrieb, schliesslich. An jenem Tag sah er eine junge Frau in einem Wald im Weiler Krumbach in der Luzerner Gemeinde Geuensee. Es war die 20-jährige Emilie Furrer, die sich für eine Kur in der Nähe aufhielt und auf Anraten ihres Arztes viel Zeit im Freien verbrachte.
Wütschert wollte er die Frau zum Geschlechtsverkehr zwingen, und als sie sich wehrte, wurde er gewalttätig. Er schlug sie zuerst, bis sie wehrlos war und schnitt ihr danach die Kehle durch. Anschliessend verstümmelte er die Leiche im Brustbereich und an den Genitalien und hatte Sex mit der Toten. Später gab er an, Emilie Furrer bewusst getötet zu haben, um die ersehnte Hinrichtung zu erreichen. Das Zuchthaus schien ihm die weit schlechtere Variante.
«Schwachsinnig», aber schuldfähig»
Zehn Tage später wurde der Mörder dank einer Privatperson, die ihn sichtete und aufhielt, verhaftet. Wütschert hatte seine Trophäen, die Unterhose, die Strümpfe und die Genitalien seines Opfers, noch bei sich. Er gestand die Tat umgehend. Gutachter beurteilten ihn trotz seiner offensichtlichen geistigen Einschränkungen als voll schuldfähig. Die Rede war von einem «gewissen Grad an Schwachsinn», doch man kam zum Schluss, dass er sein Verbrechen bewusst und nicht im Affekt oder verwirrtem Zustand ausgeübt hatte.
Wie es sein Wunsch gewesen war, landete Anselm Wütschert am 20. Januar 1915 unter dem Fallbeil. Dem vorausgegangen war eine Debatte im Grossen Rat, ob man ihm die Todesstrafe ersparen wollte, doch im konservativ geprägten Kanton Luzern hatte dieses Ansinnen keine Chance. Das war ganz im Sinn des Verurteilten, der zu Protokoll gab, sein Leben sei ihm «schon lange verleidet».
Zum Mythos geworden
Die Hinrichtung machte ihn endgültig zur regionalen Legende. Schon die Monate als «Waldmensch» in einem immer verwahrlosteren Zustand hatten dazu geführt, dass sich der psychisch Angeschlagene zum Schreckgespenst für Erzählungen am Lagerfeuer entwickelt hatte. Die Grausamkeit des Verbrechens, der Geschlechtsverkehr mit einer Leiche und der Zustand seines Opfers, das alles in der damaligen Zeit einzigartig, taten ihr Übriges, um ihn zum Mythos zu machen, der die Zeit überdauerte.
Heute würde man wohl sagen: Wollte man einen Gewalttäter förmlich heranzüchten, müsste man es genauso machen wie bei Anselm Wütschert. Die Kombination aus ungünstigen Genen und einem lieblosen Umfeld, das ihn schon als Kind sich selbst überliess, gab ihm kaum eine Chance, sich anders zu entwickeln. Als therapiebar würde er vermutlich auch heute nicht gelten. Nur dass er eben nicht unter der Guillotine gelandet wäre – und die Wissenschaft versucht hätte, wenigstens aus seinem Beispiel zu lernen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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