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Buchautorin aus Rebstein

«Das Mädchen fürchtete sich vor der Hölle»

Mit ihrem neuen Buch «Hinter dem Ladentisch» beschreibt die Rheintaler Autorin Jolanda Spirig das Leben einer Familie aus Eggersriet zwischen Kolonialwaren und geistlichen Herren.

Manuela Bruhin am 06. März 2020

Im Fokus steht eine Frau aus Eggersriet. Ihr Vater war Gärtner-Chauffeur in der Apostolischen Nuntiatur, der vatikanischen Botschaft in Bern. Die Mutter, die in Bütschwil aufgewachsen war, führte einen kleinen Kolonialwarenladen und belieferte unter anderem auch diese Botschaft. Doch wie schreibt man überhaupt eine Geschichte, die fast 80 Jahre lang zurückliegt? Jolanda Spirig im Interview:

Ihr neues Buch «Hinter dem Ladentisch» handelt von einer Frau aus Eggersriet. Wie kam die Begegnung zustande?

Ich kenne die Protagonistin eigentlich schon lange, aber ich habe mich nie mit ihr befasst. Dies änderte sich erst mit der Jacob-Rohner-Ausstellung 2017 im Museum Prestegg in Altstätten, wo die IG Frau und Museum einen Raum zum Frauenalltag in der Stickereizeit gestaltete. Zur Vorbereitung las die Gründerin und Präsidentin dieser Organisation, Martha Beéry-Artho, mein Buch «Sticken und Beten». Ihre Rückmeldung liess mich aufhorchen. Sie schrieb: Nun weiss ich, dass mich meine Gefühle als kleines Mädchen nicht getäuscht hatten. «Was für Gefühle?», fragte ich mich unwillkürlich. Und was sollte das Kind stattdessen glauben?

Wie muss man das verstehen?

Der kleinen Martha hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu den Herren der Nuntiatur. Sie nahm die kirchlichen Verkündigungen wörtlich, fand sie ziemlich unlogisch und fürchtete sich vor der Hölle. Das katholische Aufklärungsbüchlein sorgte für zusätzliche Verwirrung. Sie verstand auch nicht, weshalb Frauen nicht abstimmen durften und weshalb Kinder den Namen des Vaters trugen, wenn doch die Frauen für die Kinder zuständig waren.

Welches waren die Herausforderungen bei der Umsetzung des Buchs?

Das Nachprüfen der Erinnerungen. Die 78-jährige Protagonistin schilderte mir ihre Eindrücke als kleines Mädchen. War sie damals schon so kritisch oder hat sie ihre Wahrnehmungen im Nachhinein interpretiert? War der Vater in den 1940er- und 1950er-Jahren tatsächlich unterbezahlt, und wie war das mit den AHV-Beiträgen? Hat die Nuntiatur damals wirklich keine Beiträge entrichtet?

Autorin

Das neue Buch «Hinter dem Ladentisch»

In Ihren Büchern beleuchten Sie Fakten, fragen nach, wo andere wegschauen. Was interessiert sie so an diesen Geschichten?

Das Entdecken der weiblichen Lebensrealitäten interessiert mich seit 40 Jahren. Das berufliche Umfeld und die religiöse Prägung gehören dazu. Ich hatte schon als Kind ein gutes Sensorium für Unterdrückungsmechanismen und Doppelmoral. Gegensätze finde ich spannend: Da ist der Luxus der päpstlichen Botschaft, das herrschaftliche Gehabe der Geistlichen, die später im Vatikan Karriere machen, da ist aber auch der einfache Arbeitsalltag der Detaillistin, die mit ihrer Familie in einer Zweizimmerwohnung lebt. Im dritten und kleinsten Zimmer befindet sich der Lebensmittelladen. Der Ehemann füllt die Gestelle auf, bevor er zur Arbeit geht, und die drei Töchter tragen Ware aus.

Sie wurden bereits mit dem Rheintaler Kulturpreis ausgezeichnet. Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?

Aus dem Leben. Ich greife Geschichten dann auf, wenn sie mich neugierig machen. Ich will etwas entdecken und neue Erkenntnisse gewinnen. Das Buchthema begleitet mich beim Schreiben und auch später, wenn ich Lesungen halte. Das sind mindestens sechs Jahre, in denen ich mich nicht langweilen will.

Ihre Bücher und die Geschichten verlangen, dass Sie nachhaken, recherchieren – und auch Wahrheiten zutage fördern, die einigen vielleicht lieber verborgen blieben. Wie gross ist der Widerstand, wenn Sie die Leute interviewen?

Bei diesem Buch gab es diesbezüglich kaum Widerstände, allerdings bin ich auch nicht persönlich in den Vatikan vorgedrungen. Es gab zum Glück genügend aussagekräftige schriftliche Quellen, um die gemachten Aussagen zu untermauern.

Welche Bücher lesen Sie gerne privat?

Ich lese sehr gerne faktenbasierte Alltagsgeschichten, die etwas über ihre Zeit aussagen, aber auch Romane, sofern sie gut geschrieben sind.

Wie gehen Sie mit Schreibblockaden um?

Als ehemalige Journalistin leide ich zum Glück nicht unter Schreibblockaden, und mein Verleger setzt mich auch nicht unter Druck. Ich arbeite rund drei Jahre an einem Buch, reflektiere in dieser Zeit alles immer wieder und reiche das Manuskript dann ein, wenn es fertig ist.

Haben Sie schon Ideen für Ihr nächstes Buch?

Noch keine, abgesehen von einer Kunstpublikation, an der ich mich beteiligen werde. Ich muss zuerst meinen Kopf lüften und meine Antennen neu ausrichten. Und dann lasse ich mich überraschen. Das hat bisher immer funktioniert.

Buchhinweis:

Jolanda Spirig, Hinter dem Ladentisch – Eine Familie zwischen Kolonialwaren und geistlichen Herren, Chronos Verlag, Zürich, 2020

www.jolandaspirig.ch

Buchpräsentationen und Lesungen:

Bern, Freitag, 13. März, 19:30

Buchpräsentation in Bern, Veranstaltungssaal der Bibliothek Münstergasse, Münstergasse 63, 3000 Bern. Lesung mit Bildern: Jolanda Spirig. Gespräch mit der Protagonistin Martha Beéry-Artho. Anschliessend Apéro in der Buchhandlung zum Zytglogge, Hotelgasse 1, 3011 Bern. Eintritt: Fr. 15.-

Altstätten SG, Donnerstag, 19. März, 19:30

Buchpräsentation im Rheintal, Bibliothek Reburg, Rathausplatz 1, 9450 Altstätten.

Lesung mit Bildern: Jolanda Spirig, Gespräch mit der Protagonistin Martha Beéry-Artho. Anschliessend Apéro. Anmeldung erwünscht: info@bibliothek-reburg.ch

Teufen, Donnerstag, 2. April, 19:30

Hinter dem Ladentisch: Lesung mit Bildern in der Bibliothek Teufen (Dorf 7, 9053 Teufen)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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