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Zahlensalat beim Bund

Das sagen die Ostschweizer Ständeräte Caroni und Würth zum Wahlstatistik-Gate

Andrea Caroni, Ständerat FDP Appenzell Ausserrhoden, spricht im Interview über die «historische Häme», die über seine Partei gekommen ist. Der St.Galler Mitte-Ständerat Beni Würth ärgert sich über den «hochnotpeinlichen» Fehler.

Odilia Hiller am 26. Oktober 2023

Steckt man in der Journi-Politik-Bubble, kommt es einem vor, als hätte gestern Mittwoch das ganze Land kollektiv nach Luft geschnappt. Und dann ungläubig geraunt. Für die Printausgaben der CH-Media-Zeitungen ist der Zahlensalat, den das Bundesamt für Statistik hinsichtlich Parteienstärken seit Sonntag angerichtet hat, kein Debakel, sondern ein «veritables Debakel».

Das eher redundante Adjektiv symbolisiert trefflich die allgemeine Sprachlosigkeit: Die Schweiz, Hort von Perfektion, Akribie und Genauigkeit, rechnet falsch? Wie bitte? Und wie geht es dann in Bananenrepubliken zu und her?

Während die einen schnell einmal Witze reissen und sich erste Schnitzelbanksprüche ausdenken – Humor dient oft als Übersprungshandlung bei Dingen, die eigentlich tragisch sind –, landen die Gedanken anderer beim gebeutelten Freisinn. Was musste dieser sich nicht an Schwanengesängen anhören in den vergangenen Tagen.

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Screenshot

(Screenshot: Tagesanzeiger.ch)

Der «Tages-Anzeiger» wälzte sich genüsslich in der vermeintlichen Niederlage der FDP gegen die Mitte: «Da war kein Knall, keine Fanfare, kein Gong. Die FDP verlor leise an diesem Sonntag. Sie schlich in ihr Verderben.» Nur der «Tagi» hat’s gemerkt! Stunden später musste er zerknirscht den Hinweis platzieren, dass alles vielleicht auch anders sein könnte.

Zeit, den knapp dem Verderben entkommenen Ausserrhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni zu fragen, wie es ihm nach dem emotionalen Minus-Plus-Rechnen der vergangenen Tage geht. Immerhin ist er ein Abgesandter einer der Kantone, deren Resultate im Programmierfehler der Statistiker drei- bis fünfmal eingerechnet wurden:

Andrea Caroni

Andrea Caroni, FDP-Nationalrat von Dezember 2011 bis 2015 und FDP-Ständerat seit 30. November 2015.

Andrea Caroni, wie sehr ärgern Sie sich über das Bundesamt für Statistik (BfS), das Ihrer Partei Platz drei unter den Schweizer Parteien aberkennen wollte?

Andrea Caroni: Da hat sich das Bundesamt kolossal verhauen. Dass sich da Verantwortliche hinsetzen und sich bei der einzigen Zahl verhauen, die man nicht verhauen darf, ist ein Eigengoal erster Güte. Wenn man nur eine Zahl alle vier Jahre wirklich richtig hinbekommen muss, dann diese. Ich frage mich schon, wie es möglich ist, dass hier die Kontrollmechanismen derart versagt haben.

Was stört Sie besonders nebst der Tatsache, dass Ihre Partei hinsichtlich Parteistärke falsch eingestuft wurde?

Die Kommunikation rund um die Panne finde ich besonders irritierend. Nicht nur, dass es am Sonntagabend um 23.30 Uhr niemand mehr gemerkt hat. Man hat es auch am Montag nicht gemerkt. Am Dienstag dann schon – aber es wird erst am Mittwoch vermeldet? Das geht nicht. Je später so etwas bekannt wird, desto länger läuft die politische Diskussion falsch. Dennoch freuen wir uns natürlich, weiterhin drittstärkste Partei der Schweiz zu sein. Damit ist die Diskussion um unsere Bundesratssitze definitiv beendet.

Wie war es für Sie, all die Schwanengesänge auf den Freisinn der vergangenen Tage zu lesen?

Da ist– rückblickend ohne jede Grundlage – eine historische Häme über uns gekommen. Immerhin haben die Medien nun vom umgekehrten Resultat gleich prominent berichtet. Glücklicherweise finden sie den Fehler des Bundesamts für Statistik faszinierend genug, um es nicht bei einer Randnotiz zu belassen.

Was macht ein solcher Vorfall mit der Glaubwürdigkeit des Staates?

Es ist natürlich unschön. Die gute Nachricht ist aber: Die Wahlen in der Schweiz haben frei und fair stattgefunden. Alle Kantone haben richtig ausgezählt. Wir spielen noch immer in der höchsten demokratischen Liga – trotz BfS-Gate.

Wo sehen Sie die Verantwortung für die Panne?

Das muss nun gründlich geprüft werden. Ich frage mich dabei auch, ob Bundesrat Alain Berset als oberster Verantwortlicher seine Aufsicht wahrnimmt, bevor eines seiner Bundesämter den grössten Auftritt der Legislatur hat. Sagt er ihnen, wie wichtig es nun ist, dass alles stimmt?

Den Rücktritt von Alain Berset zu fordern, lohnt sich aber nun nicht mehr richtig. Er tritt Ende Jahr ab…

(lacht) Nein, wirklich nicht. Wenn ein Bundesrat nun Narrenfreiheit geniesst, ist er es. Es wird aber an der Geschäftsprüfungskommission (GPK) sein, zu entscheiden, inwiefern die Kontrollmechanismen im Departement des Innern überprüft werden.

Eine letzte Frage mit Augenzwinkern: Ihr Kanton, Appenzell Ausserrhoden, gehört zu den Kantonen, deren Parteistimmen drei- bis fünfmal ins fehlerhafte Schlussresultat eingerechnet wurden. Wann hatte Ihr Kanton je so viel Gewicht auf Bundesebene?

Es wäre natürlich toll, würde man die Ausserrhoder Resultate immer fünfmal einrechnen… Aber bitte nur die von Ausserrhoden. Dann hätte die FDP nämlich sehr viel besser abgeschnitten als zusammen mit Innerrhoden und Glarus, wo die FDP jeweils nicht angetreten ist und also null Prozent erhielt.

Auch Ständerat Beni Würth ist irritiert

Auf Anfrage äussert sich auch der St.Galler Mitte-Ständerat Benedikt Würth irritiert. Seine Partei wähnte sich drei Tage lang im Irrglauben, sie habe die FDP an Wähleranteilen überholt. Wir fragen ihn, ob er sich zwischenzeitlich schon als zweiten CVP-Bundesrat gesehen habe:

Beni Würth

Beni Würth

Beni Würth beginnt ironisch: «Das Bundesamt für Statistik wird nun neu Bundesamt für Schnellrechnen heissen.» Und fährt ernst fort: «Das ist hochnotpeinlich. Ärgerlich war auch, dass man fast reflexartig zuerst den Kantonen die Schuld geben wollte.» Der Reflex sei «leider bei vielen Bundesämtern mittlerweile fest verankert». Passiere irgendwo ein Fehler, sei immer jemand anders schuld, «meistens die Kantone».

Politisch hätten diese nachträglichen Korrekturen so oder so keinen Einfluss auf die Bundesratswahlen, «denn amtierende Bundesratsmitglieder wählt man nicht ab», so der St.Galler Ständerat. Das würde das System Schweiz weiter destabilisieren. «Das will ich nicht.»

«Faktisch sind wir mit dem Bundesrat nämlich schon länger in einer institutionellen Krise, und das hat unter anderem auch den Ursprung in der seinerzeitigen Abwahl von Ruth Metzler», sagt Würth. Die Regierung müsse gegenüber den Parteien wieder eigenständiger und somit kohärenter werden.

Keine Reaktion von Grünen-Star Franziska Ryser

Ebenfalls angefragt hat «Die Ostschweiz» die grüne Nationalrätin Franziska Ryser aus St.Gallen. Sie wird immer wieder als mögliche erste Bundesrätin der Grünen gehandelt, hat am Wahlsonntag ein Spitzenresultat erzielt – und rückt mit der angekratzten Zehn-Prozent-Marke der Grünen nach Korrektur der Parteistärken nochmals neu in den Fokus. Bis zur Fertigstellung dieses Texts ist keine Reaktion von Ryser eingegangen.

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Autor/in
Odilia Hiller

Odilia Hiller (*1976) ist Co-Chefredaktorin von «Die Ostschweiz».

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