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Der Arzt Daniel Holtz im Gespräch

«Das schlechte Pandemie-Management hat einen Namen»

Die Organisation AMBAG – Ärzte mit Blick aufs Ganze – geisselt das Desaster rund um die fehlenden Intensivpflegebetten. Dr. Daniel Holtz, Facharzt für Innere Medizin in Rapperswil-Jona, wirft Alain Berset vor, geschlafen zu haben. Konkrete Vorschläge werden laut ihm unter den Tisch gewischt.

Bruno Hug am 23. September 2021

Im Bild: Der Präsident der Ärzteorganisation AMBAG, Dr. Daniel Holtz (rechts im Bild), kritisiert das Corona-Management von Bundesrat Alain Berset scharf. (Bild: Linth24)

Dr. Daniel Holtz, Gesundheitsminister Alain Berset begründet die Ausweitung der Zertifikatspflicht mit dem Mangel an Intensivpflegebetten. Die von Ihnen geleitete Organisation AMBAG, bestehend aus 142 Ärzten und Ärztinnen, hat den Bundesrat bereits letzten Frühling vor den überlasteten Spitälern gewarnt und konkrete Lösungsvorschläge gemacht. Nun sind wir weit von einer richtigen, neuen Welle entfernt und der Bundesrat schlägt wegen der Betten Alarm. Überrascht sie das?

Dr. Holtz: Nicht im Geringsten! Bei den Intensivplätzen liegt die Schweiz international unter dem Durchschnitt. Reserven zur Bewältigung einer Krise wurden nie vorbereitet. Im Gegenteil! In den letzten Jahren wurden bis auf ein einziges alle Militärspitäler geschlossen sowie viele Zivilspitäler. 2018 gab es in unserem Land auf 100’000 Einwohner 11,8 Intensivplätze, was schon damals sehr wenig war. Aktuell sind es noch weniger, nämlich noch 9,9.

Ist das viel zu wenig?

Klar, wie die aktuelle Lage mit nur kleinem Anstieg an COVID-Patienten zeigt. Die 22 OECD-Länder, zu welchen die meisten europäischen Länder gehören, hatten 2018 im Schnitt zwölf Intensivplätze auf 100’000 Einwohner. Deutschland verfügte 2018 über 34 und aktuell über 31 Betten pro 100'000 Einwohner, also damals wie heute über dreimal mehr als die Schweiz!

Wie sieht es in anderen Ländern rund um die Schweiz aus?

In Österreich gibt es knapp 29 Intensivbetten für 100'000 Einwohner, in Frankreich 16,3. Als einziges Nachbarland hat Italien mit 8,6 Intensivbetten pro 100’000 Einwohner noch weniger Betten als die Schweiz. Und wie es dort zu und her ging, als die Pandemie zuschlug, wissen wir ja alle.

Wir Schweizer glauben oft, einzigartig gut zu sein. Nun stellen wir fest, wir sind gegen die Pandemie nicht besser gewappnet als Italien, das für seine teils desolate Gesundheitsversorgung bekannt ist. Wir stehen inmitten eines Desasters mit fehlenden Intensivbetten und prompt wird dieses Problem von Bundesrat Berset zum Schrittmacher seiner Corona-Politik gemacht. PCR-Tests, Masken usw. sind von gestern, nur wird mit überlasteten Spitälern argumentiert. Warum die Bettenknappheit?

Intensivpflegebetten sind sehr teuer. Wirtschaftlich gesehen ist es richtig, deren Bestand knapp zu halten. Aber nur, wenn in einer Krise schnell Reserven zur Verfügung stehen. Und diese Reserven gibt es in der Schweiz nicht mehr, vor allem nicht beim Fachpersonal. In der ersten Welle konnten wir die Intensivbetten zwar noch auf 1500 anheben, aber wegen des fehlenden Personals konnten viele gar nicht betrieben werden. Und heute ist die Situation noch schlimmer.

Das Problem liegt auch beim Personal?

Richtig. Die Zusatzbetten konnten nur auf dem Rücken, respektive unter Auslaugung des Pflegepersonals unterhalten werden. Das hat zu vielen Kündigungen im Pflegebereich geführt, was jetzt die Pandemieprobleme weiter verschärft.

Wie viel betriebsbereite Intensivbetten gibt es heute in der Schweiz noch?

Per 1. August 2021 waren es nur noch 871 Betten. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein schier unglaubliches Minus von 25%. Und das inmitten der Pandemie. Die Fakten hören sich erschütternd an. St. Gallen hat über die letzten neun Monate – man erschrickt, inmitten der Pandemie – 25% der Intensivbetten abgebaut. Zürich, man halte den Atem an, baute um 45 % ab. Die Anzahl der Betten sank in Zürich in neun Monaten von 328 auf mickrige 181. Und nun wird dem Volk gedroht, die Spitäler kämen an den Anschlag, und deshalb seien weitere einschränkende Massnahmen nötig.

Bundesrat Alain Berset trägt die Verantwortung für das Gesundheitswesen und die Bewältigung der Pandemie. Hat er geschlafen oder ist der Bettenabbau dazu da, die Menschen in die Impfung zu treiben?

Man kommt nicht umhin, zu konstatieren: Das schlechte Pandemie-Management hat einen Namen: Alain Berset. Geschlafen hat er auf jeden Fall! Ob sein Schlaf das Produkt fehlender Um- und Weitsicht war oder in unlauterer Absicht erfolgte, weiss man nicht. Jedoch erfahre ich in meiner Arztpraxis täglich, dass viele glauben, die Bettenverknappung werde zum Impfzwang missbraucht.

Werden die Bürger mit der Intensiv-Bettenauslastung desinformiert? Dieser Tage sagte mir ein in Spitälern operierender Rapperswiler Arzt, er habe vom Spital Männedorf eine ganze Reihe von Operationszeiten angeboten bekommen – und im Spital Lachen sei seines Wissens das Personal in der Intensivstation bei weitem nicht ausgelastet.

Man hört im Moment alles. Das zeigt, dass der Bundesrat immer mehr ein Kommunikations- und Glaubwürdigkeitsproblem hat. Viele scheinen das Gefühl zu haben, die Pandemie werde politisch und nicht wissenschaftlich begleitet. Das könnte auch der Grund für die äusserst tiefe Impfquote im Land sein.

Im Februar 2020 hat AMBAG dem Bundesrat einen offenen Brief geschrieben. Er enthielt unter anderem Vorschläge, wie in kurzer Zeit ein Aufbau von betriebsbereiten Intensiv- und Allgemeinpflegebetten möglich wäre. Haben Sie vom Bundesrat eine Antwort erhalten?

Nein! Unsere Vorschläge scheinen im Bund niemanden und offenbar auch Alain Berset nicht interessiert zu haben. Nach drei Monaten gab’s ein kurzes Dankesschreiben aus dem BAG. Der Brief werde an die zuständigen amtsinternen Facheinheiten weitergeleitet. Das war’s! Dabei möchte ich noch erwähnen, dass auch die Schweizer Leitmedien den ihnen von uns zugestellten, von immerhin 142 Ärztinnen und Ärzten unterschriebenen Brief, nicht mit einem Wort erwähnt haben.

Was beinhalteten Ihre Vorschläge?

Wir schlagen eine landesweite, systematische Anwerbung und Einarbeitung von ehemaligem Pflegepersonal vor. Und eine Erhöhung des Bestandes an Sanitätstruppen. Zugleich schlagen wir vor, einen neuen Typus Sanitätssoldat und -soldatin zu schaffen, den «Sanitätssoldat Zivilspital».

Wie ginge das mit der Anwerbung von ehemaligem Pflegepersonal?

Ehemalige Spital-Fachpersonen, das können zum Beispiel Frauen sein, die selbständige oder erwachsene Kinder haben und bereit wären, einem Spital in Notlage zu helfen. Oder Pfleger, die ihre Beschäftigung gewechselt haben, aber nun ein Spital unterstützen wollen. Oder Pensionierte. Alle, die sich melden, werden fix einem Spital in Wohnortnähe zugeteilt und in einem mehrwöchigen Kurs vor Ort eingearbeitet. Besteht kein Einsatzbedarf, gehen diese Personen nach dem Kurs wieder ihren üblichen Aktivitäten nach, können aber bei Bedarf schnell aktiviert werden.

Und wie geht das mit dem «Sanitätssoldat Zivilspital»?

Die Sanitätssoldatinnen und -soldaten bestehen einen Eignungstests und sind bereit, die Grunddienstpflicht von 40 Wochen an einem Stück zu leisten. Sie erhalten einen Speziallehrgang bei den Sanitätstruppen und absolvieren schon den Rest dieses Dienstes im Spital, welchem sie fix zugeteilt werden. Nach Abschluss des Grunddienstes werden sie weitere Dienste leisten. Dies jährlich, bis sie aus der Dienstpflicht entlassen sind. So verfügten die Spitäler schon in der Normallage über einen gewissen Stock an gut qualifiziertem Hilfspflegepersonal, welches die professionellen Pflegefachkräfte in vielem entlasten könnte. Dieses Kontingent könnte in einer Krise durch Aufgebot weiterer solcher Spezialisten und Spezialistinnen aufgestockt werden.

Warum interessiert man sich beim Bund für derartige Lösungen nicht?

Wir sind in einer Zeit grosser Trägheit angelangt, in welcher man vieles, was mit etwas Aufwand verbunden und bezüglich Ergebnis nicht ganz sicher ist, gar nicht erst anpackt. Die Idee mit dem «Sanitätssoldat Zivilspital» dürfte es schon deshalb schwer haben, weil viele das Wort «Militär» nicht mehr hören wollen, obwohl eine solche Lösung unserer Gesellschaft stark helfen würde. Stattdessen nehmen wir Depression, Beziehungsverlust, häusliche Gewalt, Angst, Beklemmung, Krankheit, ja sogar Tote in Kauf. Das Einzige was ich vom BAG und Alain Berset höre ist: Impfen! Das ist zu wenig. Wie man sieht, kommt er damit nicht ans Ziel.

Alain Berset überzeugt mit seinem Pandemiemanagement immer weniger. Angefangen von seiner Ablehnung der Maske, nur weil sein BAG nicht bereit war und keine hatte, über die mangelnde Impfstoffbeschaffung bis jetzt zur Bettenknappheit in den Spitälern. Ausserdem lehnte er eine Impfpflicht strikte ab, um sie nun durch den Hintereingang mit dem Zertifikat einzuführen. Das verärgert viele.

Ich spüre rundum Verunsicherung seiner Person gegenüber. Alain Bersets Glaubwürdigkeit wird von vielen hinterfragt. Das nicht nur in meinem breiten privaten Umfeld, sondern immer wieder auch seitens meiner Patienten und Patientinnen.

Was tut Ihre Organisation AMBAG, was tun ihre 142 Ärzte, um sich Gehör zu verschaffen?

Wir werden an das BAG gelangen und fragen, was aus der in Aussicht gestellten Prüfung unserer Anliegen geworden ist. Zudem wollen wir auch in Sachen Covid-Taskforce das Notwendige in Bewegung bringen. Wir haben in unserem 10-Punkte-Brief deren Erneuerung vorgeschlagen. Auch hier ist nichts passiert. Nun erwägen wir, zusammen mit anderen massnahmenkritischen Gruppierungen, die Gründung einer breit abgestützten «Wissenschaftlichen COVID-19-Taskforce der Schweizerischen Zivilgesellschaft» ins Leben zu rufen. Diese würde namhafte Wissenschaftler, Verfassungsrechtler, Strafrechtler, Ethiker, Spital- und Hausärzte, Pflegepersonal, Leiter von Spitälern und Altersheimen, Lehrer, Studenten und Unternehmer umfassen. Ziel ist es, die Entscheidungen der COVID-19-Taskforce und des Bundesrates öffentlich zu hinterfragen und zu kommentieren.

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Autor/in
Bruno Hug

Bruno Hug ist Verleger von linth24.ch und Präsident Verband Schweizer Online-Medien (VSOM). Er wohnt in Rapperswil-Jona.

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