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Leserbrief

Das Zückerli vor der bitteren Pille? Offener Brief an meinen Freund, den Klein- und Bergbauer

Deine Lobby ist stark. Dank der Verordnung von Umweltminister Albert Rösti wird Dein Erzfeind, der Wolf, in der Schweiz praktisch ausgerottet. Du jubelst und fühlst Dich stark. Aber ist das wirklich so? Was bringt Dir die Verordnung von Herrn Rösti in Wirklichkeit?

Leserbrief «Die Ostschweiz» am 11. November 2023

Dein schönes Vieh grast ruhig auf der Alp. Alle haben Ohrmarken, aber auch einen Namen. Wenn Du kommst, rennen sie auf Dich zu. Du schaust gut für sie.

Deine Kinder rennen barfuss auf der Wiese. Sie spielen mit den Holzkühen, die Du ihnen geschnitzt hast. Wenn ich Deine Kinder frage, was sie später werden wollen, antworten sie stolz: «Bauer, wie meine Eltern.»

Deine Welt scheint in Ordnung zu sein. Deine Lobby ist stark. Gerade vor einer Woche hat diese einen grossen Sieg errungen. Dank der Verordnung von Umweltminister Albert Rösti wird dein Erzfeind, der Wolf, in der Schweiz praktisch ausgerottet. Du jubelst und fühlst Dich stark.

Aber ist das wirklich so? Was bringt Dir die Verordnung von Herrn Rösti in Wirklichkeit?

Damit schaffst Du Dir Feinde

Ganze Rudel werden zum Abschuss freigegeben. Doch damit schaffst Du Dir Feinde.

Niemand kann nachvollziehen, warum Du bei Wolfrissen so emotional reagierst, wenn Dich die bei weitem zahlreicheren Tierverluste – weit mehr als 80 Prozent aller Tierverluste auf der Alp – die sich durch Absturz, Blitz oder Krankheit ereignen, kalt lassen!

Hast Du kein Mitleid mit Deinem Schaf, das vom Felsen abgestürzt ist, sich ein Bein gebrochen hat und tagelang elendig und qualvoll verendet? Nie erwähnst Du diese Verluste!

Und sage mir bitte nicht, dass die mehr als 80 Prozent Verluste, die ich Dir jetzt präsentiere, «von den Grünen erfundene Zahlen» sind! Das Argument ist lächerlich und macht Dich unglaubwürdig.

Bilder sind schwer zu ertragen

Natürlich bedauern wir alle sehr das gerissene Vieh. Die Bilder, welche in den sozialen Netzwerken kursieren, sind schwer zu ertragen.

Gegen die Wolfsrisse hast Du aber die Herdenschutzmassnahmen. Die werden Dir vom Bund bezahlt! Diese Massnahmen sind aufwendig, aber erfolgreich: Diejenigen Bauern, die diese Massnahmen (Elektrozaun, Herdenschutzhunde) anwenden, fürchten sich nicht mehr vor dem Wolf!

Trotz Vergrösserung der Wolfspopulation ist dank den Herdenschutzmassnahmen die Anzahl der Risse im Jahr 2023 beträchtlich gesunken. Und wenn Du sie anwendest, kehren auch mehr Tiere bei der Abalpung nach Hause, weil diese Massnahmen Deine Tiere genau auch vor Verletzung und Absturz schützen.

Im September 2020 stimmte das Schweizer Volk für den Schutz des Wolfes in der Schweiz. Jetzt wurde dieser demokratische Entscheid durch die «Rösti-Verordnung» verwässert.

Die Mehrheit bezahlt die Ausgleichsgelder

Hast Du das Gefühl, dass Dein Jubeln bei der Mehrheit, die für den Schutz des Wolfes gestimmt hat, gut ankommt? Die Reaktion dieser Mehrheit könnte Dir egal sein. Doch bezahlt diese Mehrheit für Dich auch die Ausgleichsgelder, von denen Du teilweise lebst. Im Bündnerland bittest Du den Touristen, einen Wolf mit nach Hause zu nehmen… Und der Tourist fragt sich, ob er auch seine Ausgleichsgelder mit nach Hause nehmen soll?

Auch die Waldfachleute sind wütend auf Dich: Die Dezimierung des Wolfes führt unweigerlich zu Waldschaden. Der Wolf reguliert das Wild und schützt damit die Jungbäume vor Wildbissen.

Werden diese Jungbäume durch das Wild vernichtet, bleiben die älteren Bäume zurück. Leider haben diese unter der Trockenheit der letzten Jahre ziemlich gelitten. Sie sind anfälliger auf Krankheiten und Parasiten wie der Borkenkäfer. Du wirst dich dann dafür schuldig machen, dass der Wald sich nicht verjüngen kann und abstirbt.

Das mit den Jägern hat noch nie funktioniert

Deine «Lösung» kenne ich: Die Jäger sollen das Wild erlegen, das der Wolf nicht mehr reguliert. Das hat aber, mein Freund, nie funktioniert. Erinnerst Du Dich an die 1980er-Jahre? An die Jahre des «Waldsterbens» in der Schweiz?

Der Wolf war in der Schweiz noch abwesend. Das Wild war in der Überzahl und damit auch ein wichtiger Faktor für das Waldsterben. Und die Jäger konnten die Wildbestände nie richtig regulieren, wie der Wolf es macht.

Doch nun nehmen wir an, dass der heutige Jäger die Wildbestände regulieren kann. Die Mengen an Wildfleisch, die der Wolf frisst, werden auf den Markt landen und dem Fleisch, das Du produzierst, Konkurrenz machen. Willst Du das?

Deine wirtschaftliche Lage

Damit kommen wir zu Deiner wirtschaftlichen Lage – und zur bitteren Pille. Das weisst Du aber schon, mein Freund: Deine Lage wird immer prekärer. Die Auflagen des Bundes wiegen immer schwerer, Deine Subventionen werden in naher Zukunft gekürzt, die Konkurrenz der Agrarindustrie wird immer grösser.

Du bist das Opfer der bilateralen und der anderen Verträge mit dem Ausland. Du vertrittst nur drei Prozent der Schweizer Population. Du musst Milch und Fleisch immer günstiger verkaufen, wenn Du überhaupt weiter existieren willst… «Wachse oder weiche!»

Gut, wirst Du mir sagen, wir sind in den Bergen, da kann man nicht viel anders, als in kleinem Rahmen zu bauern. Bist Du sicher?

Windparks und Solaranlagen

Der Bund will grosse Windparks und Solaranlagen in unseren Bergen installieren, nach dem Motto der «umweltfreundlichen Selbstversorgung». Diese Windparks und Solaranlagen sind jedoch alles andere als klimaneutral, und sie sind für reiche Investorenfirmen attraktive neue Technologien und damit auch Geldanlagen. Dein Land, Dein Betrieb sind im Weg.

Somit bist auch Du, wie der Wolf, auf der Abschussliste. Also, anstatt Dir mehr Feinde zu schaffen, verbünde Dich mit Leuten, die wie ich wollen, dass Du weiterhin existierst.

Du bist die letzte Bastion gegen den Wahnsinn der Agrarindustrie. Du, wie der Wolf, bist ein wichtiger Faktor für das ökologische Gleichgewicht in unseren Regionen. Hätte Herr Rösti Umweltwissenschaft anstatt «Business Administration» studiert, hätte er seine berüchtigte Verordnung nie durchgeboxt. Diese ist ein Schuss nach hinten, der Dir nur schadet.

Komm wieder an den Verhandlungstisch

Also, mein Freund, komm wieder an den Verhandlungstisch in der Sache Wolf. Die Wolfsregulation wird nicht in Frage gestellt, sie muss erfolgen. Aber nicht so!

Schaffen wir zusammen eine Zukunft, wo Du, Deine Kinder, Deine Tiere, der Wald und auch der Wolf im Gleichgewicht leben können. Deine «Bauernweisheit» sollte Dir flüstern, dass der Weg des Gleichgewichts der einzige ist, der die Existenz aller Mitbeteiligten garantiert.

In Liebe

Martine Schmid, Eidg. Dipl. Biologin, Eidg. Dipl. Tierärztin, Kant. Approbierte Naturheilpraktikerin (TG, AR), Urnäsch

(Symbolbild: Depositphotos)

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