Seit bald einem Jahr wütet die Corona-Pandemie in der Schweiz. Behörden und Regierungen auf allen Stufen tun in den letzten Wochen wieder ihr Bestes, um Glaubwürdigkeit und Rückhalt in der Gesellschaft zu verspielen.
Zuletzt, indem sie Dinge tun, vor denen anfangs der Pandemie Daniel Koch, damals der “Kopf der Pandemie”, immer gewarnt hatte. Koch hatte damals denjenigen, die schärfere Massnahmen forderten, immer wieder entgegengehalten, dass man Massnahmen nur mit und nicht gegen die Bevölkerung anordnen könne.
Nun wissen regelmässige Leserinnen und Leser unserer Kolumne, dass wir Koch in verschiedenen Punkten scharf gerügt hatten. In diesem Punkt aber hatte er absolut recht und viel Weitsicht. Was den Personen, die heute entscheiden, abgeht. Und genau daran krankt die Krisenbewältigung. Die Massnahmen erscheinen willkürlich und sind nicht nachvollziehbar. Aber das brauchen wir hier nicht zu schreiben. Dutzende andere Experten und Journalisten haben das schon vor uns getan.
Mit etwas Abstand
Unsere Überlegung heute ist eine andere. Versuchen wir mal etwas Abstand zu nehmen vom hektischen Tagesgeschäft und dem medialen Geschrei, das ja vor allem auf hohe Klickzahlen aus ist. Stellen wir uns die Frage aller Fragen, die ein Krisenmanager bei der Problemerfassung stellen muss. (Die Problemerfassung ist der erste Schritt im Stabsarbeitsprozess zur Bewältigung einer Krise) Die Frage lautet: Womit haben wir es hier zu tun? In den Führungsunterlagen wird diese Ausgangsfrage häufig in der französischen Version gestellt: “De quoi s’ agit-il?”
Wir haben es mit einem Virus zu tun, das eine Sterblichkeit hat von, wir sagen jetzt einmal, weniger als einem Prozent. Im Wissen darum, dass darüber ja vortrefflich und sehr emotional gestritten wird. Diese Diskussion interessiert uns aber an dieser Stelle nicht. Aber als einfache strukturierte Männer sagen wir jetzt mal: Die Sterblichkeit ist im Durchschnitt tief. Egal ob 0.23 oder 1.15 Prozent. Beides ist tief. Sie erhöht sich dann aber rasch ab einer bestimmten Alterskohorte. Auch darüber hatten wir schon geschrieben: ein erster signifikanter Anstieg ist erst bei den Ü65 zu verzeichnen, ein schärferer bei den Ü75.
Wenn wir uns jetzt einmal in unser Kerngeschäft zurückversetzen, oder sagen wir, einen wesentlichen Teil dessen, die Krisenstabsübungen, die wir mit Firmen und Verwaltungen durchführen: Hätten wir noch vor 2020 eine solche Übung mit diesem Corona-Szenario präsentiert, hätten wir von den Kund/innen wohl das Feedback erhalten: “Ist das wirklich stark genug? Müssten wir der Übung nicht eine gefährlichere Ausgangslage zugrunde legen?” So etwa wie beim Ebola-Virus (Ausbruch 2014 bis 2016), bei dem die Infektionssterblichkeit (also die Anzahl der Infizierten, die daran sterben) bei 90 Prozent betrug?
Was wäre wenn?
Und das ist genau unsere Überlegung heute. Wenn wir als Gesellschaft schon eine Pandemie, von der eine – vergleichsweise – sehr mässige Gefahr ausgeht, so schlecht managen und diese rechnerisch mässige Gefahr unsere Gesellschaft radikalisiert und spaltet, Existenzen zerstört und eine nie gesehene Polarisierung hervorbringt – was passiert dann erst, wenn ein Virus auftauchen würde, das eine weit höhere Sterblichkeit mit sich brächte – vielleicht «nur» schon eine Todesrate von 50 Prozent, und das bei einer gleichmässigen Verteilung über alle Altersklassen?
Wir wollen keine Panik schüren, mit diesem Beitrag. Ein solches Virus ist ja zum Glück nicht in Sicht. Aber “Gouverner, c’est prévoir”, heisst ein Motto des Krisenmanagements. Doch was wäre dann mit unserer Gesellschaft, wie würden wir reagieren?
Bei einer solchen deutlich dramatischeren Gefährdungssituation wäre das Problem wohl weniger, dass Menschen nicht einsehen würden, dass sie zuhause bleiben sollten. Das Problem wäre vielmehr, dass sie zuhause bleiben würden, obwohl sie dringend gebraucht würden. Weil unsere Gesellschaft auch in einer Krise auf vieles angewiesen ist. Beginnen wir bei der Entsorgung. Die (meist) Männer, die Woche für Woche unprätentiös unsere Abfallsäcke einsammeln. Sie sind definitiv systemrelevant. Blieben sie aus Angst einfach zuhause, hätten wir schnell eine zusätzliche Gesundheitsgefährdung, zum Beispiel Seuchen aufgrund sanitarischer Mängel. Aber auch das überall beschworene Pflegepersonal und alle Mitarbeiter/innen in den Spitälern. Würden sie noch arbeiten gehen, wenn die Sterblichkeit des Virus 50% betrüge? Und die Detailfachangestellten in der Migros, bei Coop, Denner, Maxi oder in all’ den anderen Läden? Die Postboten? Die Polizist/innen? Wer würde dann die öffentliche Sicherheit noch garantieren? Wir malen das Bild nicht weiter aus. – Falls Sie mögen, verweisen wir auf die verschiedenen Hollywood-Filme, die sich solchen Szenarien angenommen haben. (Contagion 2011, Outbreak – Lautlose Killer 1995, The Bay – Nach Angst kommt Panik 2012, Die Stadt der Blinden 2006, The Crazies 1973, Carriers 2009, 28 Days Later 2002, Children of Men 2006, Omega Mann 1971, Maggie 2015).
Wie können wir bestehen?
Wie also sollten wir eine solche Herausforderung bestehen können, wenn wir schon eine milde Pandemie so grottenschlecht bewältigen? Aber vielleicht liegen wir auch einfach komplett falsch. Wechseln wir mal den Betrachtungswinkel um 180 Grad. Man könnte auch argumentieren, dass wir viele der Diskussionen, die uns gegenwärtig zermürben, bei einer gefährlicheren Pandemie nicht hätten.
Wenn wir bei einer Ansteckung mit dem Virus eine 50/50-Chance hätten, überhaupt zu überleben, würden wir uns nicht darüber aufregen, dass das Fitness-Center um 1900 Uhr statt um 2200 Uhr schliesst. Wir würden eh’ nicht mehr hingehen. Dasselbe mit Restaurants, Bars, etc. Die Diskussionen, die wir heute führen, gäbe es nicht. Natürlich würde ein gefährlicheres Virus noch viel mehr Existenzen kosten und die Wirtschaft noch viel kompletter an die Wand fahren.
Aber es ginge dann um das nackte Überleben. Essen, Trinken, Schlafen. Fertig. Keine Zeit und keine Ressourcen für Diskussionen darüber, ob jemand vereinsamt oder psychologisch Schaden nimmt, wenn er oder sie bis zur Überwindung der Krise einfach nur jeden vermeidbaren Kontakt vermeidet, oder, wenn er doch nötig ist, dann womöglich nur mit Vollkörper-Schutzanzug. Wir würden, weil alles andere das schiere Überleben gefährden würde, wohl auch diesbezüglich etwas kreativer werden. Und halt die digitalen Möglichkeiten, die es ja heute gibt, besser nutzen. Der Fokus der ganzen Gesellschaft wäre konzentriert auf die rein physische Überlebensfrage.
Gefährlicheres Virus, einfacheres Szenario
Schliessen wir den Kreis, dann zeigt sich: Aus dem Blickwinkel des Krisenmanagements wäre ein viel gefährlicheres Virus vielleicht sogar einfacher zu bewältigen. Weil dann alle ein und denselben Fokus hätten. Ist vielleicht ein Virus wie Corona gerade deswegen die grösste denkbare Herausforderung für eine freie demokratische Gesellschaft? Ist das, was wir erleben, der absolute Worstcase genau deshalb, weil das Virus weniger tödlich ist als andere?
Letztlich ist es, dass genau dieses Merkmal der tiefen Sterblichkeit, die erst zur Explosion der unterschiedlichen Interessen geführt hat. Zwischen jenen, die Abmahnen, dass der Verhinderung von Corona-Toten nicht alles andere geopfert werden darf und jener Gruppe, die bereit sind, jede Massnahme zu unterstützen, um nur keine weiteren Corona-Toten mehr zu generieren.
Wären wir nicht Krisenkommunikationsberater, sondern Drehbuchautoren aus Hollywood, bräuchte es jetzt nur noch zwei weitere Zutaten für den Blockbuster: den raffinierten Bösewicht im kommunistischen Osten, der das Virus in die Welt gesetzt hat, um die freie-demokratische Ordnung in den westlichen Staaten zu zerstören. Und natürlich voller Absicht, einen Virus mit tiefer Sterblichkeit in seinen Labors kreierte und dann ausbrechen liess. Und dann braucht es für einen erfolgreichen Film noch einen Helden, der es schafft, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, das Virus zu besiegen und zu zeigen, dass die freie demokratische Welt in der Lage ist, eine solche grosse Herausforderung zu bestehen.
Aber eben, das ist Fiktion. Die Wissenschaft ist sich ja einig, dass das Virus nicht aus einem Labor kommen könne. Es gibt keinen Bösewicht. Aber auch ein Held ist nicht in Sicht. Nicht in Bern und nicht in Hollywood.
Roger Huber (1964) und Patrick Senn (1969) sind ehemalige Ostschweizer Journalisten, die lange Jahre bei nationalen Medientiteln gearbeitet haben. Heute unterstützen Sie Organisationen und Führungskräfte in der Krisenkommunikation und sind Gründungsmitglieder des Verbandes für Krisenkommunikation vkk.
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