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Ein Beitrag zur Verhältnismässigkeit

Der beste Psychotherapeut sind die nackten Zahlen

Die grösste Gefahr derzeit liegt darin, dass wir die Verhältnismässigkeit völlig verlieren. Verwirrt durch tägliche Alarmzahlen sehen wir das grosse Ganze nicht mehr. Dabei dienen die Zahlen, die vorliegen, der Beruhigung.

Stefan Millius am 05. November 2020

Die nachfolgenden Zahlen* entstammen nicht der Giftküche eines sogenannten Verschwörungstheoretikers, sondern aus offiziellen Erhebungen. Sie rücken die Wahrnehmung gerade, die unsere Gesellschaft derzeit erfasst hat. Es sind keine anderen Zahlen als die Behörden sie erheben. Allerdings schiessen diese buchstäblich jeden Tag Einzelzahlen auf uns los, aus dem Zusammenhang gerissen. Es sind Momentaufnahmen. So entfesseln sie ihre volle Kraft. «Wieder XY Prozent!» mehr klingt eindrücklich, angsteinflössend.

Erst das Gesamtbild schafft Wirklichkeit - und Beruhigung.

Die ist bitter nötig. Inzwischen diskutieren selbst Schulkinder untereinander, dass die Schweiz «bald ausstirbt» und dass sie selbst voraussichtlich Opfer des Coronavirus werden. Wenn es das Ziel der monatelangen Kampagne war, Kinder in Angst und Schrecken zu versetzen, dann darf man Bundesrat, Task Force, Bundesamt für Gesundheit und einzelnen Kantonsregierungen gratulieren: Job erfüllt.

Und auf der Basis derselben Zahlen, die eigentlich beruhigen könnten, wird schleichend der öffentliche Raum von Masken erfasst. Die Stadt St.Gallen schickt ihre Stadtpolizei los auf Maskensünder, die in Ballungszentren - der inzwischen weitgehend ausgestorbenen Innenstadt - die Maske nicht tragen. Der Ostschweizer Lungenarzt Andreas Paky schrieb dazu auf Facebook: «Das Schritt-Tempo beträgt so um 2 Meter/Sekunde. Wenn ich also in der Multergasse laufe und mir ein Passant entgegen kommt, geht es genau eine Sekunde und wir sind schon zwei Meter voneinander entfernt. Er muss also in einer Sekunde ausatmen, mir ins Gesicht, lieber in den Mund hauchen… und dann muss er noch infektiös sein… Statistisch ist das ein Zwölfer im Lotto.. wenn ich infiziert werde. Ich überlasse es euch, mal darüber nachzudenken…»

Das nur zur Aufwärmung, um zu verdeutlichen, was die allgemein zugänglichen Zahlen bewirken.

Übrigens gehen wir gnädig um mit den Zahlen. Wir behandeln die «Fallzahlen» so, wie es die Experten des Bundes tun. Wir gehen also davon aus, dass alle wirklich Corona-positiv sind, was bekanntlich kaum der Fall ist. Und wir stören uns für einmal nicht daran, dass so getan wird, als wäre «positiv» gleich «erkrankt». Auch bei den Coronatoten sind wir grosszügig: Wir nehmen sie 1:1 für bare Münze, ohne zu hinterfragen, wer alles in diese Kategorie geworfen wurde.

Zum aktuellen Stand von Donnerstag, 5. November 2020 vormittags gab es seit Beginn der «Krise» in der Schweiz 192'376 Coronafälle. 87'100 Menschen haben sich erholt, 102'721 Fälle sind aktuell. Gestorben sind 2555 Menschen, in ernsthafter oder kritischer Verfassung sind 375.

Dass hinter jedem «Fall» ein menschliches Schicksal steht, haben wir bereits mehrfach ausgeführt. Aber wer Grundrechte beschneidet und Verordungnen beschliesst, die tief in die persönliche Freiheit eingreifen, muss beweisen, dass er die Verhältnismässigkeit beachtet.

Auf 1 Million Einwohner gerechnet wurden bisher 22'172 Fälle erhoben. Fälle heisst: Positiv getestet. Wiederum auf 1 Million Einwohner gerechnet sind 294 Menschen gestorben. Jeder einer zuviel, keine Frage, aber nur dann, wenn man davon ausgeht, dass Sterben grundsätzlich etwas Unanständiges ist und sich jeder Todesfall verhindern lässt. Zur Relation: In der Schweiz sterben in der Regel über 60'000 Menschen pro Jahr, also rund 165 pro Tag. Ein Drittel davon übrigens an einer Herz-Kreislauf-Krankheit, ein Viertel an Krebs.

Ob derzeit noch irgendjemand an Medikamenten gegen Krebs forscht?


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Gerne wird auch mit anderen Ländern verglichen, um zu zeigen, wie dramatisch es in der Schweiz steht. Dabei wird nicht beachtet, dass jedes Land anders mit der Situation umgeht und beispielsweise auch andere Tests einsetzt. Den PCR-Test gibt es in dreistelliger Ausführung. Wie glaubhaft Zahlen von anderswo sind, zeigt das Beispiel von China. Dort gibt es angeblich aktuell 400 aktive Coronafälle - in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen. Gestorben sind nicht mal doppelt so viele wie in der Schweiz. Neun Menschen befinden sich in ernsthaftem oder kritischem Zustand. Wenn man diese Zahlen bezweifelt - und das sollte man - dann sollte man alle Zahlen bezweifeln.

Im Zusammenhang mit Corona ist oft die Rede von einer drohenden Übersterblichkeit. Der Begriff ist insofern irreführend, dass jeder Ausschlag nach oben gemessen am üblichen Schnitt ihn hervorruft. Er klingt bedrohlich, belegt aber nur eine statistische Abweichung, die vielleicht nicht mal besonders auffällig ist. Die Influenza beispielsweise kann einen solchen ebenfalls herbeiführen. 2017 starben 3 Prozent mehr Menschen als im Vorjahr. Aber allein 1500 Todesfälle waren innerhalb weniger Wochen durch die Grippe zu beklagen. Das sind «Ausreisser», die es immer wieder gibt und die niemals zu hektischem Treiben (oder dem Ruinieren ganzer Branchen) geführt haben.

Die Frage, die man sich deshalb stellen muss: Ab welchem Punkt ist die Übersterblichkeit wirklich nicht nur mit irgendwelchen Kommastellen, sondern in einem besorgniserregenden Ausmass erreicht?

Die Anhänger weitreichender Schutzmassnahmen argumentieren stets mit der Zukunft. Man solle nicht die aktuellen Zahlen anschauen, sondern das, was noch auf uns wartet. Doch wie viele der Prognosen aus dem Frühjahr haben sich bewahrheitet? Wo war das grosse Sterben, das uns bereits im Frühjahr angekündigt wurde? Warum sollte die Verhältnismässigkeit zwischen positiv Getesteten, wirklich Erkrankten und Verstorbenen mit einem Mal anders aussehen?

Ins selbe Kapitel gehört die Intensivversorgung. Eine solche wird in keinem Land der Welt auf den grösstmöglichen Fall ausgerichtet, sondern auf den Normfall. Singuläre Ereignisse können immer zu einer temporären Überlastung führen. Das wäre auch bei einer Naturkatastrophe so. Die Schweiz ist aber in der Lage, Kapazitäten hochzufahren. Auch hier stellt sich die Frage nach der Verhältnismässigkeit: Kann ein drohender temporärer Engpass Grund genug sein, das Land an die Wand zu fahren?

Denn die oft zitierten möglichen Spätfolgen und Langzeitwirkungen von Corona sind in erster Linie eine blutende Wirtschaft, bankrotte Firmen und eine Gesellschaft, die irgendwann die soziale Distanz für den Normalfall halten wird.

Kein Zweifel: In der anstehenden Wintersaison wird es mehr Ansteckungsfälle geben und damit auch mehr Erkrankungen und Todesfälle - wie immer, wenn es um ein Virus geht. Aber in welchem Verhältnis stehen diese Werte zueinander? Rafft Covid-19 einen massiven Teil der Menschen, die das Virus kriegen, dahin? Rechtfertigen die bisherigen Erfahrungen das, was derzeit geschieht?

Verhältnismässigkeit ist der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Wie viele Steuern kann man verlangen, dass man zum einen die Aufgaben des Staates erfüllen kann und zum anderen den einzelnen Steuerzahler nicht auspresst? Die Politik muss andauernd nach genau dieser Balance suchen.

Und jetzt hat sie genau diese Balance definitiv verloren. Obwohl sie mit denselben Zahlen operiert.

Getestet wurden übrigens inzwischen 2,08 Millionen Menschen in der Schweiz. Eigentlich kann man nur hoffen, dass in einem Gewaltakt die restlichen 6 Millionen so schnell wie möglich ebenfalls getestet werden. Denn dann könnten die Medien nicht mehr Tag für Tag über drastische Zunahmen berichten. Wir hätten eine abschliessende Zahl. Und könnten in Ruhe zusehen, wie sich der Lauf der Dinge entwickelt.

Bis dann können wir beobachten, wie die «aktiven Fälle» zum allergrössten Teil rüberwandern in die Spalte «Erholt». Nicht alle, natürlich nicht. Aber das liegt in der Natur des Lebens.

Alle Zahlen aus worldometers.info

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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