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Widerspruch um Widerspruch um Widerspruch

Der Bundesrat findet aus seiner eigenen Spirale nicht mehr heraus

Die regelmässigen Verlautbarungen des Bundesrats inklusive der jüngsten haben für die Kritiker der Coronapolitik einen angenehmen Nebeneffekt: Man erlebt live mit, wie sich die Regierung in eigenen Widersprüchen verheddert. Vermutlich erleben wir aktuell gerade den Höhepunkt dieser Kaskade.

Stefan Millius am 11. August 2021

In Deutschland herrscht Tauwetter. Grosse, leserstarke Zeitungen lesen inzwischen der Bundesregierung die Leviten darüber, was diese in den vergangenen Monaten bei der Bekämpfung des Coronavirus angerichtet hat und fordern sie auf, damit aufzuhören. In der Schweiz geht bekanntlich alles ein bisschen langsamer. Hier darf der Bundesrat nach wie vor darauf vertrauen, dass die Medien seine Darlegung der Situation und das ungerührte Festhalten an den Massnahmen ungefiltert wiedergeben und höchstens «Mehr davon bitte!» schreien.

Aber jedes Gebilde, das nicht auf Tatsachen beruht, erhält irgendwann Kratzer, dann Risse, irgendwann fällt das ganze Ding auseinander. Die Kommunikationswut des Bundesrats führt wenigstens dazu, dass man ihn inzwischen über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren beim Wort nehmen und messen kann, wo er richtig lag und das Richtige tat.

Wer glauben möchte, dass diese Bilanz gut ausfällt, sollte nicht weiterlesen.

Am Mittwoch hat der Bundesrat, namentlich Alain Berset, in der neuesten grossen Runde davon gesprochen, dass nun die Normalisierungsphase rund um Corona eintrete. Das musste er auch tun, immerhin haben er und seine Experten den Drei-Phasen-Plan überhaupt erst erfunden, also muss er auch zu Ende geführt werden. Unter Normalität versteht der Bundesrat allerdings nur, dass es nicht noch schlimmer wird für die Zivilgesellschaft. Besser wird zunächst gar nichts. Obwohl das der Fall sein müsste, wenn man «Normalität» wörtlich nimmt.

Nehmen wir die Impfung, diesen Druidentrank, dem Wunderkräfte zugeschrieben werden. Täglich treffen Nachrichten aus der ganzen Welt ein, die zeigen, dass der Impfstoff mit der Frage «Ansteckend oder nicht» herzlich wenig zu tun hat und deshalb dem Virus auch erstaunlich wenig Halt gebietet. Damit ist das Covidzertifikat, mit dem Geimpfte ihren Sonderstatus erhalten, ad absurdum geführt. Dieses Zertifikat soll nun zwar nicht noch ausgeweitet werden auf Restaurantbesuche und anderes, aber es bleibt uns generell erhalten. Muss es auch, weil die Impfkampagne weiter verzweifelt betrieben wird. Aber dass dieses Blatt Papier beziehungsweise ein QR-Code nichts damit zu tun hat, dass dessen Inhaber «ungefährlich» ist und alle anderen wandelnde Zeitbomben sind, müsste inzwischen jeder kapiert haben.

Aber das Schnittmuster ist immer dasselbe. Irgendjemand skizziert die Möglichkeit, das Zertifikat auf weitere Lebensbereiche auszudehnen, und wenn der Bundesrat das dann nicht tut, wirkt er wie der nette Onkel von nebenan, der Schokolade verteilt. Obwohl nur schon das Festhalten an dieser grotesken Idee ein Skandal ist.

Ganz beiläufig erklärte Berset am Mittwoch auch, über weniger oder mehr Massnahmen entschieden künftig nicht mehr die Fallzahlen, sondern die Lage im Gesundheitswesen, sprich: Die Auslastung der Spitäler. Es ist erstaunlich, dass er das sagen konnte, ohne dass die anwesenden Journalisten in Schnappatmung verfielen. Denn die mögliche Überlastung der Spitäler war uns schon zu Beginn der Coronasituation als grösste Bedrohung verkauft worden. Unterm Strich wurden die Massnahmen gegen das Virus immer genau damit verkauft. Dass die Fallzahlen mit der Lage in den Spitälern rein gar nichts zu tun haben, wusste man immer. Erstens, weil die Tests untauglich sind, zweitens, weil ein positiver Test nichts aussagt darüber, ob jemand erkrankt oder nicht, schon gar nicht spitalreif.

Aber nun, 18 Monate später, zeigt sich der Bundesrat (für den Moment) gnädig bereit dazu, das völlig untaugliche Kriterium der Fallzahlen fallen zu lassen und besinnt sich auf das, was wesentlich ist. Gleichzeitig kündigt er das an wie eine Neuerung. Ging es denn nicht immer um den Schutz des Gesundheitswesens? Und was hatten die Fallzahlen damit satte eineinhalb Jahre zu tun? Es gab nie eine alarmierende Situation an den Spitälern, und hätte der Bundesrat sich und seine Ängste ernst genommen, hätte er die Übung schon viel früher abblasen müssen.

Das sind alles Fragen, die auf der Hand liegen, aber die stellt schon lange keiner mehr.

Den Bundesrat scheint es auch nicht zu interessieren, wie die von ihm einst als felsenfest gefeierten Fallzahlen aktuell unter den Geimpften durch die Decke schiessen. Schadenfreude ist nie angebracht, wenn jemand erkrankt, aber wenn an durch das Covidzertifikat «gesicherten» Veranstaltungen das Virus fröhlich herumhüpft, ist es doch ziemlich schwierig, ernst zu bleiben. Die Impfung bleibt dennoch der Trumpf von Berset, im heiligen Ernst verkündet er, das Virus werde nun eben bei den «Nichtgeimpften zirkulieren». Möglich, aber das tut es ganz offensichtlich auch bei den Geimpften, so unschön es sein mag, was der ganzen Übung einen Hauch Comedy verleiht.

Aber eben, wenn staatlich verordnet die Impfung alles verändern muss, spielt es keine Rolle, was die Realität sagt. In diesem Sinn geht es fröhlich weiter. Die Ungeimpften dürften sich nicht mehr auf staatliche Schutzmassnahmen verlassen, so Berset. Das ist nun kein veritabler Schock. Es ist verlässlich zu sagen, dass die meisten der heute Ungeimpften zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Schutzmassnahmen wollten, weil sie die Gefahr durch das Virus als gering einstufen oder auf Eigenverantwortung setzen – oder beides. Viele Menschen in diesem Land wollen eigentlich nur eines: In Ruhe gelassen werden. Ihnen den staatlichen Schutz zu entziehen ist keine sehr beeindruckende Sache.

Apropos Comedy: Das Bundesamt für Gesundheit kündigte auch an diesem Mittwoch unerbittlich die Möglichkeit von zusätzlichen Hospitalisierungen und weiteren Todesfällen an, die schon bald eintreten. Das tut das BAG seit jeher, aber es trat nie ein, und wenn die Zahlen doch danach aussahen, dann nur dank einer kreativen Auslegung der Fälle. Mit Beinbruch im Spital gelandet und dort das Virus kassiert? Bingo, ein weiterer Covidpatient im Spital. Von den Todesfällen ganz zu schweigen.

Dass das BAG auch im August 2021 noch an seinen Horrorszenarien festhält, deutet auf Strategie oder Realitätsverlust hin. Vielleicht ist es auch eine Mischung von beidem.

Wirklich passiert ist an diesem Mittwoch kaum etwas. Die Spitäler sind leer, Corona findet weitgehend nur in der Zeitung statt, das griechische Alphabet der Mutanten ist ein schlechter Witz. Aber das ändert nichts. Wir müssen uns weiterhin die Maske überstreifen, wenn wir mutterseelenallein im Waggon eines Zugs sitzen, und das Covidzertifikat ist ein derartiger Machtpfropfen, dass eine Regierung dieses Instrument nie mehr hergeben würde.

Der einzige echte Entscheid dieses Tages war die Verkündung, es werde keine Gratistests mehr geben, weil Leute, die sich nicht impfen, aber munter testen lassen, einfach zu teuer seien.

Das löst nun schon so viele zwingende Fragen auf, dass man gar nicht weiss, wo man beginnen soll. Das mit dem 3G, also geimpft oder getestet oder genesen, war das gar nie so richtig der Wunsch? Ging es nur immer um das eine «G», geimpft, und Leute, die gemäss einem Test negativ sind oder Corona bereits überstanden haben, sind irgendwie ziemlich lästig? Und wenn sich der Bundesrat heute Gedanken macht über die Kosten der ganzen Übung, wirkt das nicht leicht seltsam? Ein Antigentest koste immerhin 47 Franken, rechnete Berset mit Sorgenfalten auf der Stirn vor, was, wenn das jemand jede Woche macht? Die Staatskasse blutet!

Wir können ihm gerne sagen, was ist, wenn das jemand tatsächlich jede Woche macht. Dann kostet es knapp 200 Franken. Diese Summe kann man nun den Kosten des gekauften Impfstoffs, der ja offentlich nicht hält, was er verspricht, den Marketingkkosten für die Impfkampagne, der Einrichtung von Impfzentren, den Steuerausfällen durch ruinierte Betriebe und so weiter entgegensetzen.

Ohne unvorsichtig sein zu wollen, aber angesichts dessen, was dieses Land bisher für eine völlig unverhältnismässige und im Endeffekt untaugliche Gesundheitspolitik ausgegeben hat, scheinen 200 Franken pro Monat für jemanden, der sich gerne testen lässt, doch eher bescheiden. Dieses Land verbraucht gerade seine gesamten Reserven und treibt Unternehmen in den Konkurs, um halbleere Spitäler vor einer imaginären Überlastung zu schützen, und Berset macht sich Gedanken um 47 Franken? Ja, klar, wer den Rappen nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert, aber hat sich jemand mal überlegt, wie verhältnismässig diese Rechnung ist?

Übrigens muss man den Test weiterhin nicht bezahlen, wenn man Krankheitssymptome vorweisen kann. Sparfüchse sollten deshalb vor dem Spiegel schon mal einen eindrucksvollen Hustenanfall einüben, dann klappts. Das Personal der Apotheke wird froh sein, wenn man den Laden schnell wieder verlässt mitsamt Gratistest. Um solche Fälle zu vermeiden, wird übrigens nicht ausgeschlossen, dass es dereinst auch ein «Zertifikat für Symptom-Testungen» gibt, weil ja das bereits existierende Covidzertifikat so ein krachender Erfolg ist.

Irgendwann wird das grösste Problem von Corona sein, dass der Durchschnittsnutzer zu wenig Speicherplatz auf seinem Smartphone hat, weil er 43 Apps des Bundes installieren muss, nur um an einem Quartierfest teilzunehmen.

Wie gesagt: Comedy. Und zwar in Reinkultur. Aber Comedy, die offenbar die meisten Leute immer noch ernst nehmen.

Wie völlig orientierungslos unser Bundesrat agiert, verrät ein Detail. So haben wir nach wie vor, auch nach diesem Mittwoch, immer noch ein Limit von 30 Personen bei privaten Treffen. Darauf angesprochen, befand Alain Berset, diese Regel hätten ohnehin die meisten Leute vergessen, und die Wirkung der Massnahme sei wohl «sehr tief». Nicht nur die Leute haben sie also vergessen, sondern auch der Bundesrat. Er beurteilt die Wirkung als sehr tief, rüttelt aber nicht an der Massnahme, sondern lässt sie einfach stehen, offensichtlich, weil er nicht mehr wusste, dass es sie gibt.

Wie ernst kann man eine Regierung noch nehmen, die Regeln aufstellt, dann davon ausgeht, dass sich sowieso keiner daran hält, die Regel aber einfach mal so aufrecht erhält und sich erst wieder daran erinnert, wenn ein Journalist danach fragt?

Vielleicht war dieser 11. August wirklich der Höhepunkt der Show. Schon zuvor hatten uns Regierung und Experten in den Behörden immer wieder vorgeführt, dass sie eigentlich keine Ahnung haben, was sie gerade tun und deshalb sicherheitshalber noch eine Schaufel nachlegen wollen. Spätestens seit diesem Tag ist aber die totale Orientierungslosigkeit, die Ziellosigkeit, die Willkür der Coronapolitik so offensichtlich, dass sie jedem auffallen müsste.

Wir halten an einem Zertifikat fest, das Gut von Böse trennt, aber in keiner Weise etwas am Zustand ändert. Wir bleiben hinter einer Maske, weil diese inzwischen gesellschaftlich weitgehend akzeptiert ist und gar niemand mehr fragt, was es bringt. Wir haben alle Menschen geimpft, die besonders gefährdet sind und auch geimpft werden wollen, genau wie das die Politik immer forderte. Aber es macht absolut keinen Unterschied, die Ungeimpften bleiben diskriminiert.

Nichts, gar nichts von dem, was einst als unbedingt nötiger Durchbruch definiert wurde, wird nun auch als Durchbruch interpretiert und führt zu den versprochenen Erleichterungen. Es bleibt weitgehend alles beim Alten, abgesehen davon, dass nach den Ungeimpften nun allmählich die Leute, die sich lieber testen lassen, auch noch benachteiligt werden.

Es ist ja verständlich, wenn Menschen, die in die Panik getrieben wurden, sich gerne an einer starken Schulter anlehnen und froh sind, wenn jemand die Verantwortung übernimmt. Nach eineinhalb Jahren muss man aber nüchtern konstatieren, dass die Schultern des Bundesrats ein reiner Wackelpudding sind. Keine seiner Vorhersagen traf zu, keines seiner Gegenmittel bewirkte etwas, und inzwischen muss man sich längst die Frage stellen, ob die Suche nach einem Gegenmittel überhaupt nötig war. Ob das alles nötig war. Vermutlich müsste man nicht mal mehr die Frage stellen, weil die Antwort jedes Mal offensichtlicher wird, wenn der Bundesrat vor die Kameras tritt.

Aber wer immer noch möchte, darf natürlich statt zu zweifeln lieber stolz sein auf Alain Berset, weil dieser 47 Franken pro Kopf pro Woche einsparen möchte.

Und doch noch eine abschliessende Frage: Wenn das alles die «Normalisierungsphase» ist, ist es dann in Ordnung, wenn man sich mittlerweile gar keine Normalität mehr wünscht?

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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