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Halbzeitbilanz

«Der Bundesrat hat zu viel Macht an sich gerissen»

Ostschweizer National- und Ständeräte ziehen Halbzeitbilanz und schätzen die aktuelle Lage ein. Heute: SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr (*1984). Für sie steht fest: «Auch heute noch leiden wir unter der besonderen Lage, dass der Bundesrat zu viele Kompetenzen hat.»

Marcel Baumgartner am 08. Juli 2021

Wir haben bewegte Zeiten hinter uns. Wie hat sich das Schweizer Politsystem als Gesamtes in dieser aussergewöhnlichen Lage geschlagen bzw. bewährt?

Im Frühjahr 2020 war es meiner Ansicht nach richtig, dass der Bundesrat das Zepter übernommen hat. Niemand wusste, wie sich die Situation verändert oder wie gefährlich das Virus für die Menschheit ist. Es wäre zu diesem Zeitpunkt nicht möglich gewesen, mit allen 246 Parlamentarierinnen und Parlamentariern die Situation zu analysieren und die nötigen Entscheidungen in dieser Geschwindigkeit zu treffen.

Jedoch wurde bereits nach kurzer Zeit offensichtlich, dass vor allem Ältere und Personen mit einer Vorerkrankung besonders betroffen sind. Da hätte sich die politische Lage etwas beruhigen sollen. Insbesondere der Fakt, dass durch das Ausrufen der ausserordentlichen Lage das Parlament faktisch ausgeschaltet wurde, ist im Nachhinein besonders störend. Auch das teils unkoordinierte Vorgehen im Zusammenhang mit den Kantonen stiftete mehr Verwirrung, als es zur Beruhigung beitrug.

Es ist nicht verständlich, weshalb Entscheidungen von Kantonen zu gewissen Massnahmen bereits nach ein paar Tagen durch die Bundesregierung wieder komplett umgekrempelt wurden. Es wurde deutlich, dass das erst gerade revidierte Epidemiengesetz einer Krise nicht standhält und aufgrund fehlenden Pandemie-Erfahrungen zu wenig genau erarbeitet wurde.

Dort gilt es nachzubessern und die Hoheiten zu klären. Wenn ich jedoch einen Blick über die Landesgrenze werfe, muss ich sagen, haben wir es besser gemeistert als viele umliegende Länder, die noch drastischere und einschneidendere Massnahmen hatten als die Schweiz – und ohne bessere Wirkung. Ich sehe den Grund in unserer direkten Demokratie. Die Bevölkerung ist es durch die vielen Urnengänge gewohnt, Regierungs- und/oder Parlamentsentscheide kritisch zu hinterfragen und zu beurteilen. Schweizerinnen und Schweizer sind nicht blindlings staatsgläubig, das hat uns ein Stück weit geholfen.

Und welches Zeugnis stellen Sie dem Bundesrat aus?

Grundsätzlich muss man festhalten, dass Kritik im Nachhinein immer einfach ist. Insbesondere dann, wenn man selber nicht im Fokus der Entscheidungen steht und keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen muss. Deshalb finde ich, dass der Bundesrat zu Beginn der Pandemie richtig gehandelt hat. Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn man strikte gehandelt und auch die Grenzen geschlossen hätte. Damit wären wohl viele weitere Massnahmen hinfällig geworden. Als jedoch offensichtlich wurde, wer besonders betroffen ist und wer weniger, hat der Bundesrat mutlos gehandelt und den Weg des geringsten Widerstands gewählt.

Der Bundesrat hat zudem über Monate hinweg zu viel Macht an sich gerissen. An diesem Zustand werden wir heute und in nächster Zukunft noch sehr zu beissen haben. Das Parlament wurde faktisch entmachtet und auch die Kantone mussten tatenlos zusehen, wie über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde. Auch heute noch leiden wir unter der besonderen Lage, dass der Bundesrat zu viele Kompetenzen hat und diese Machtgelüste offensichtlich nicht mehr zurückfahren möchte.

Welcher Aspekte, welches Ereignis war für Sie in der gesamten Corona-Situation wie ein Schlag in die Magengrube?

Als man von Seiten der Gewerkschaften versuchte, die Baustellen zu schliessen. Wäre das erfolgreich gewesen, wäre von einem Moment auf den anderen die komplette Wirtschaft lahmgelegt gewesen. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was dies für die Schweiz bedeutet hätte. Aber auch die Schliessungen der Gastronomie über mehrere Wochen ist für mich bis heute nicht nachvollziehbar. Konnte doch nie belegt werden, dass diese mit den aufgebauten Schutzkonzepten Ansteckungsherde waren. Grundsätzlich ärgert es mich, dass man immer mit möglichen Horror-Szenarien gerechnet hat, die nie auch nur ansatzweise so eingetroffen sind. Die Task-Force hat ihre Stellung teilwiese fast populistisch ausgenutzt und damit die Bevölkerung massiv verunsichert. Als Beispiel: Zuerst sagte man «Schutzmaske nützt nichts». Kaum waren genügend Masken vorhanden folgte die Maskenpflicht.

Was bleibt für Sie hingegen äusserst positiv in Erinnerung?

Dass ich endlich wieder einmal etwas mehr Zeit für mich und meine Familie hatte und weniger vom Kalender gesteuert war als sonst. Ich habe die freie Zeit insbesondere an den Wochenenden genutzt, um mehr Sport zu machen, aber auch, um mich in der Backstube in der Küche etwas zu verwirklichen. Etwas, das ist zuvor nicht kannte und wohl auch nie dazu gekommen wäre. Persönlich hat mir die Entschleunigung gut getan. Ich hoffe, dass davon etwas haften bleibt.

Woran sollten sich die Wählerinnen und Wähler im grossen Wahljahr 2023 unbedingt zurückerinnern, bevor sie die Wahlzettel ausfüllen?

Wer für die Rückkehr zur Freiheit und den neuen Alltag gekämpft hat. Hätte sich die SVP nicht gebetsmühlenartig für die Aufhebung gewisser unlogischer Massnahmen eingesetzt, wären wir nicht in diesem Freiheitsgrad, den wir heute haben. Da bin ich mir sicher. Aber den Druck werden wir weiterhin aufrecht erhalten. Wir sind noch lange nicht am Ziel unserer persönlichen Freiheit – selbstverständlich unter der Wahrung der Selbstverantwortung.

Welche Bereiche, in denen dringend Handlungsbedarf besteht, gerieten durch die Corona-Diskussionen eher in den Hintergrund?

Neben den grossen Projekten der Sanierung der Altersreform müssen wir auch ein Augenmerk darauf legen, dass der Werk- und Industriestandort Schweiz nicht weiter durch Regulatorien und Bürokratie geschwächt wird – aber auch, dass die duale Berufsbildung weiterhin an Stellenwert gewinnt. Ich beobachte jedoch, dass man aufgrund Corona gezielt versucht, eine linkslastige Politik zu betreiben und damit den Staat und die Staatsabhängigkeit weiter ausbauen möchte. Eine brandgefährliche Entwicklung, bei der man massiv Gegensteuer geben muss.

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Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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