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Gemeindepolitik unter der Lupe

Der Dorfkönig und seine sechs Narren

Das Milizsystem im Kanton St.Gallen ist an seine Grenzen gestossen. Wir müssen uns fragen, ob wir in den Gemeinden ein Heer von Berufspolitikern installieren wollen – oder vielleicht einfach zu alten Werten zurückkehren müssten.

Gloria Schöbi am 10. Juni 2020

Bei diesem Text handelt es sich um einen Beitrag aus dem Print-Magazin von «Die Ostschweiz». Es kann via abo@dieostschweiz.ch bestellt werden.

Vor 60 Jahren war es in den Gemeinden im Kanton St.Gallen eine Selbstverständlichkeit, dass der Gemeindepräsident – ganz im Sinne des Milizgedankens – neben seinem öffentlichen Amt hauptsächlich einer beruflichen Tätigkeit nachging. So war es auch gang und gäbe, dass im Gemeinderat Vertreter des lokalen Gewerbes Einsitz hatten und nicht nur ihren breiten Erfahrungsschatz als Bürger, sondern auch als Gewerbler einbrachten. Das gegenseitige Verständnis zwischen Politik, Gesellschaft und Gewerbe war eine Selbstverständlichkeit und trug massgeblich zum Wohlstand und schlanken Verwaltungsstrukturen bei.

Bereits in den 70er-Jahren begann ein fragwürdiger Wandel: Der nebenamtliche Gemeindepräsident wurde für immer und ewig ins Exil geschickt.

Heute gibt es im Kanton St.Gallen insgesamt 77 Gemeinden, wovon drei mit einem Parlament ausgestattet sind. Wirft man einen Blick auf die 74 verbleibenden, muss man sich auf intensive Suche begeben, um jene zu finden, die keinen hauptamtlichen Gemeindepräsidenten haben. Der Gemeindepräsident von heute ist inniger Berufspolitiker. Eine Aussensicht auf die Dinge scheint für dieses politische Amt – zumindest im Grossteil der St. Galler Gemeinden – nicht mehr von Nöten zu sein. Und die teilweise Abkehr vom bewährten Milizsystem ist eine Selbstverständlichkeit.

Wird das gelebte System kritisiert, kommen – meist aus Verwaltungsreihen – allgemeine Erklärungen wie «die Komplexität der Aufgaben und Abläufe im Verwaltungsbereich haben überproportional zugenommen». Diese Komplexität muss sich also bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ereignet haben. Hierbei geht vergessen, dass durch diese Ausgestaltung einer der Grundsteine unseres politischen Daseins, das Milizsystem, ausgehebelt wird. Zumindest in all jenen Gemeinden, wo keine zusätzliche politische Instanz – wie beispielsweise ein Parlament – existiert.

Selbstverständlich darf man die nebenamtlichen Gemeinderatsmitglieder nicht vergessen, die sehr wohl Milizpolitiker sind. Die meisten Gemeinderäte gehen einer beruflichen Tätigkeit im Vollpensum nach. Fehlstunden die aufgrund der politischen Tätigkeit beim Arbeitgeber anfallen, müssen kompensiert werden. Der Druck ist gross und die zeitlichen Ressourcen, um komplexe Sachverhalte zu prüfen und hinterfragen, sind stark limitiert.

Im Gegensatz dazu ist der Gemeindepräsident tagtäglich mit ebendiesen komplexen Sachverhalten befasst. Zwischen ihm und den restlichen Gemeinderatsmitgliedern besteht ein beachtliches Informationsgefälle. Dieses schlägt besonders dann zu Buche, wenn sich Gemeinderatsmitglieder innerhalb weniger Tage auf eine Sitzung vorbereiten müssen, wo eine grosse Anzahl wichtiger und umfangreicher Geschäfte behandelt werden soll. Und trotz alledem soll es möglich sein, sich eine fundierte Meinung zu bilden und in einem Gremium von «Gleichberechtigen» eine ausgewogene Entscheidung zu treffen? Im Zweifelsfalle wird ein hauptamtlicher Gemeindepräsident ebendieses Informationsgefälle zu seinen Gunsten – bewusst oder unterbewusst – nutzen. Natürlich immer zum Wohle der Gemeinde.

Bildlich gesprochen sitzen während des Entscheidungsprozesses ein König und sechs Narren am Gemeinderatstisch. Die ganze Sache scheint bei genauerer Betrachtung vielerorts mehr eine Alibiübung als etwas anderes zu sein. Ruedi Keel, ehemaliger Sekretär des Departements des Innern, schrieb bereits in den 90er-Jahren in einem Beitrag über die ordnenden Kräfte im Kanton St.Gallen, dass der Gemeindepräsident als Ratsvorsitzender eine hervorragende Stellung einnehme: «Er ist der Kaiser im Dorf.» In diesem Zusammenhang wies Keel darauf hin, dass auf die Wahrung demokratischer Mitsprache ein besonderes Augenmerk in der Gemeindepolitik gelegt werden muss.

Geändert hat sich seit damals vieles. Insbesondere die Zusammensetzung der Gemeinderäte. Die klassischen Gewerbler aus dem Dorf, die früher zahlreich in Gemeinderäten mitwirkten, sind heute gar nicht oder untervertreten. Übervertreten sind Angestellte des Dienstleistungssektors wie Berater, Verkäufer und Banker. Zudem gibt es auch vermehrt Gemeinderäte, die bei der öffentlichen Verwaltung oder einem öffentlichen Betrieb tätig sind. Akademiker und höhere Kaderangestellte geben sich sozusagen die Klinke in die Hand.

Vereinzelt beobachtet man, dass einer so schnell geht wie er gekommen ist. Woran das liegen mag? Spricht man mit ehemaligen Gemeinderäten, so bezeichnet sich manch einer rückblickend – hinter vorgehaltener Hand – als «Dekoration» oder «Blüemli vor dem Fenster». Andere fühlten sich stets als Störenfried oder Querulant, wenn sie Dinge kritisch hinterfragten. Und neben den Networkern gibt es dann zu guter Letzt auch diejenigen, die glauben Meilensteine gesetzt zu haben, indem sie dem König am Tisch stets buchstabengetreu Folge leisteten: «Die Dinge werden schon ihre Richtigkeit gehabt haben». Kann schon sein, aber wirklich wissen tut man es dann doch nicht.

Es gibt andere Systeme, die dem Milizgedanken mehr Berücksichtigung schenken. In zahlreichen Gemeinden anderer Kantone ist der Gemeindepräsident lediglich nebenamtlich tätig und als eine Art Verwaltungsratspräsident zu verstehen, der sich auf die strategischen Aufgaben konzentriert. Gleichzeitig kann er seinen Erfahrungsschatz – meist aus der Privatwirtschaft – in seine Tätigkeit einbringen.

Da sämtliche Gemeinderatsmitglieder am Tisch denselben Informationsstand haben, wird der Weg zum Entscheid ein völlig anderer sein. Zudem ist es ein Einfaches, Verwaltungsangestellte, die Geschäfte vorbereiten und allenfalls ein Informationsgefälle zu ihren Gunsten nutzen wollen, zeitnah und schmerzlos in die Wüste zu schicken. So sind sie eben nicht unantastbar wie der Dorfkönig.

Es ist an der Zeit, das kommunale Milizsystem im Kanton St.Gallen zu überdenken. So kehren wir entweder zu den Werten von einst zurück oder entscheiden uns die Alibiübung abzuschaffen, um ein Heer von Berufspolitikern zu installieren. Es ist Geschmackssache. Die Zeit zum Handeln ist aber schon längst gekommen.

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Gloria Schöbi

Gloria Schöbi (*1987) ist Rechtsanwältin in der Kanzlei Bartl Egli & Partner in Heerbrugg und Au. Sie ist zudem Gemeinderätin (FDP) der Politischen Gemeinde Au und Vorstandsmitglied der FDP Frauen des Kantons St.Gallen.

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