Wie dieses elende Virus wirklich aussieht, wissen immer noch die wenigsten. Aber immerhin hat es nun ein künstliches Gesicht erhalten: Die Schutzmaske. Und das ist wohl auch ihr Zweck. Eine Reise durch den öffentlichen Raum zeigt: Wenn diese Massnahme was bringt, dann ist es ein Wunder.
Marketingtechnisch betrachtet ist es ein Meisterstück. Denn die Coronakrise drohte gerade, aus der Wahrnehmung zu rutschen. Die Läden wieder offen, die Gastronomie wieder in Betrieb, und Distanzregeln sind ein reiner Fall für die Merkzettel, die immer noch überall kleben und nur dazu dienen, übersehen zu werden. Wir waren auf dem besten Weg zur gefühlten Normalität. Was nicht sein durfte. Denn, wir wissen es: Die zweite Welle. Wo die beginnt und wo es immer noch ein Ausläufer der ersten ist und ob es diese überhaupt als «Welle» gab: Es wird diskutiert.
Der Staat weiss aber: Wer sich sicher fühlt, wird unvorsichtig. Das Virus musste dringend wieder sichtbar werden. Und weil die Fallzahlen das nicht hergeben - obwohl ja wirklich versucht wird, mit ihnen Dramatik zu erzeugen -, muss ein anderes Symbol her. Eines, das man von weitem sieht. Eines, an dem keiner vorbeikommt. Eines, das uns dauernd in Erinnerung ruft, was bei unserem Gegenüber vielleicht darauf lauert, auf uns überzugreifen. Und da gibt es nur etwas.
Die Maske.
Die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr ist mutmasslich eine der unklarsten staatlichen Vorgaben der neueren Zeit. Was kann passieren, wenn man sie nicht trägt? Busse? Theoretisch, aber es gibt nicht mal einen fixen Bussenkatalog. Aus dem Zug rausgeworfen werden? Auch theoretisch. Aber da freuen wir uns auf den Präzendenzfall vor Gericht. Das alles droht nicht wirklich. Nur eines: Die Stigmatisierung durch die Restmenschheit. Böse Blicke. Genervte Zurufe. Standpauken.
Und siehe da: Das reicht. Die Disziplin ist unglaublich. Das zeigt eine eigene kleine Reise. Ein ziemlich schwach besetzter Zug aus dem Rheintal nach Zürich an einem Samstag - und Masken überall. Es ist ein Tag, an dem man ohnehin niemandem zu nah kommen muss im Abteil, wenn man nicht will. Im Gegenteil: Es hat massig Platz. Aber darum geht es nicht. Masken überall heisst: Corona überall. Bewusstsein überall.
Es funktioniert. Jedenfalls der Marketingteil. Aber wie steht es mit dem Schutz? Dem eigentlichen Ziel?
Ankunft am Hauptbahnhof Zürich. Die Bahnhofshalle ist nicht so voll wie werktags, aber durchaus belebt. Die Leute steigen aus dem Zug. Geschätzte 80 Prozent streifen sich die Maske vom Gesicht. Einige landen im Abfall, andere in der Jacken- oder der Handtasche, wieder andere am Hals. Für später gewissermassen. An wie vielen Tagen die Dinger schon getragen wurden: Man weiss es nicht und will es auch gar nicht wissen.
Und dann strömen die Leute ohne Schutzmaske durch die Bahnhofshalle. Einander dicht an den Fersen, dicht aneinander vorbeischrammend. Vor dem Bretzelstand mit den längst nutzlos gewordenen Distanzmarkierungen am Boden. Hauchen sich gegenseitig in den Nacken. Drehen sich um und stehen Gesicht zu Gesicht zum Hintermann, bevor sie sich mit dem Imbiss wieder ins Getümmel stürzen. Völlig legitim, man muss die Maske ja nur in Zug oder Bus tragen. Dort, wo man soeben eine Stunde sehr einsam in einem leeren Abteil gesessen und in das Papier geatmet hat, den Blick auf drei oder vier Meter Distanz gerichtet, wo die nächste Person sitzt.
Die reinste Form der Disziplin heisst: Einer Anordnung Folge leisten, ohne sie zu hinterfragen. Und davon abzulassen, wenn man nicht mehr muss, obwohl es vielleicht erst dann wirklich Sinn machen würde.
Ein bisschen wie in der Armee. Und das sollte uns beruhigen, denn wir haben ja bekanntlich die beste der Welt.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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