Von links: Michael Heumann, Dr. rer. soc. Dietrich Wagner, Dr. rer. soc. Dana Sindermann und Sebastian Müller.
Dass die Wissenschaft frei handeln können muss, wurde in der Schweiz nie ernsthaft bestritten. Corona hat die Debatte darüber aber entfacht. Dabei zeigt sich, dass wissenschaftliche Arbeit heute oft ein Instrument der Vermarktung ist. Ein Gastbeitrag der Akademie für kritische Wissenschaftskultur.
Gastbeitrag von Dr. Dietrich Wagner, Dr. Dana Sindermann, Sebastian Müller und Michael Heumann. Das Autorenteam besteht aus Wissenschaftlern an Schweizer und deutschen Universitäten und bildet gemeinsam die Akademie für kritische Wissenschaftskultur (AkW) mit Sitz in St.Gallen.
Die Corona-Taskforce des Bundes ist nochmal mit einem blauen Auge davongekommen. Nach hitzigen Diskussionen entschied der Nationalrat, ihr doch keinen «Maulkorb» zu verpassen. Spätestens damit ist die Diskussion zu Einschränkungen wissenschaftlicher Freiheit auch in der Schweiz angekommen.
Auf den ersten Blick hätte man die Frage, ob die Wissenschaft frei sei, kaum für möglich gehalten. Denn Zensur und die direktdemokratische Schweiz – das passt doch nicht zusammen. In der Tat gibt es aktuell an schweizerischen Universitäten eine verschwindend geringe Anzahl bekannter Fälle von politisch motivierten Redeverboten oder Forderungen zur Entlassung von Professorinnen und Professoren, wie das in jüngster Zeit an US-amerikanischen und deutschen Universitäten der Fall ist.
Nimmt man die kritischen Stimmen zum Zustand der Wissenschaftskultur hingegen ernst, wie sie zum Beispiel aus dem jüngst gegründeten «Netzwerk Wissenschaftsfreiheit» tönen, liegt die Sache anders. Der heiss diskutierte «Maulkorb» für die Corona-Taskforce führt uns in die Untiefen politischer, ideologischer und moralischer Beschneidungen der Wissenschaftsfreiheit in der internationalen und auch in der Schweizer Forschungslandschaft.
Diese Wissenschaftskultur hat sich in den letzten zwei Dekaden von einem Raum der Neugierde und des leidenschaftlichen Erkenntnisinteresses zu einem Wissenschaftsbetrieb transformiert, der den Prinzipen der Marktwirtschaft frönt.
So gelten in den meisten wissenschaftlichen Debatten diejenigen Beiträge als qualitativ wertvoll, welche hohe Zustimmung von Kolleginnen und Kollegen erfahren: Popularität sticht wissenschaftliche Wahrheit.
Werden Beiträge in begutachteten Fachzeitschriften oft zitiert, steigt ihr kalkulierter «Wert» und damit die «Güte» der oder des Forschenden. Diese Zustimmung wird durch unterschiedliche Metriken in Zahlen gegossen. Mit diesem Versuch, Qualität zu objektivieren, sollte ursprünglich ein verkrustetes Wissenschaftssystem überwunden werden, in welchem ein Günstlingswesen vorherrschte. Heraus gekommen sind letztlich die vielbeachteten Impact-Faktoren. Sie beruhen primär auf der Häufigkeit von Zitaten in anderen, möglichst hoch bewerteten Beiträgen.
Das Ganze ist mit dem Ansehen einer Youtuberin oder eines Instagrammers zu vergleichen, deren Existenzberechtigung sich ebenso an der Anzahl der generierten Klicks bemisst. Wie in den sozialen Medien führt diese Bewertungslogik auch in den Wissenschaften zu einer selbstreferenziellen und selbstverstärkenden Filterblase. Wissenschaftliches Arbeiten wird dadurch immer mehr zur Vermarktung, ja zum Marketing der eigenen Forschung und Person. Viele Institutionen und Universitäten treiben diese regelrechte «Ökonomisierung der Wissenschaft» systematisch voran: Sie berufen Professorinnen und Professoren vornehmlich auf Basis dieser Zahlen und sie trichtern Nachwuchswissenschaftlern bei jeder Gelegenheit die hohe Bedeutung ihrer quantifizierbaren Reputation ein.
Eine solche Forschungskultur kippt genau dann in eine Cancel-Culture, wenn Wissenschaftler oder Organisationen aus dem fachlichen Diskurs ausgeschlossen werden, sobald sie an unpopulären Ergebnissen festhalten.
Das ist auch zahlreichen Forschenden in der Coronakrise passiert. Das System verselbständigt sich, indem das Mittel der Zahlen zu einem Selbstzweck wird. Zunehmend machen diejenigen Forschenden Karriere, die diese sophistischen Bedingungen verinnerlichen und sich entsprechend anpassen. Am Ende ist dann auch das Begutachtungsverfahren in Fachzeitschriften nur noch eine Stufe im Prozess einer oberflächlich verstandenen Quantifizierung. Der wissenschaftlichen Qualitätsprüfung dient es kaum mehr. Dass so eine Kultur wie ein Knebel auf freie Wissenschaft wirkt, liegt nahe. Forschende richten ihre Vorhaben und auch ihre Ergebnisse zunehmend an vermuteten oder offensichtlichen Trends aus.
Stellt die Forderung der Wirtschaftskommission des Nationalrats, der Taskforce einen Maulkorb zu verpassen, ebenfalls einen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit dar? Die einfache Antwort hierauf lautet: ja. Denn den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sollte untersagt werden, in dieser Sache öffentlich ihre Meinung zu äussern. Die profunde Antwort lautet hingegen: nein. Nicht die Wirtschaftskommission beschränkt die Freiheit der Wissenschaft, sondern ihre Freiheit wurde zu einem viel früheren Zeitpunkt beschränkt.
Denn Diskussionen innerhalb der Corona-Taskforce, in denen auch Stimmen Gehör finden, welche einen anderen Umgang mit der Pandemie befürworten, wurden bislang nicht öffentlich geführt.
Das lässt vermuten, dass solche Stimmen entweder ausgeblendet werden oder gar nicht erst Teil der Corona-Taskforce sind, wie Kritiker anführen. Letzteres würde nicht überraschen. Denn so wie Wissenschaftler in vielen Fällen nur dann in einem prestigeträchtigen Journal publizieren können, wenn sie sich positiv auf die dort erschienenen Beiträge beziehen, wurden weitestgehend solche Wissenschaftler die Corona-Taskforce berufen, welche im Frühjahr 2020 mehrheitsfähig waren, das heisst: solche, die eine vom «Meinungsmarkt» nachgefragte Pandemieeindämmungsstrategie samt Lockdown befürworteten.
Nicht unwichtig ist dabei, dass der Bund eigentlich bereits eine Art «Taskforce» hatte: die demokratisch gewählte, wissenschaftlich plural aufgestellte Eidgenössische Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP). Der Bundesrat befürwortete die Stummschaltung dieses Gremiums gleich zu Beginn der Pandemie seltsamerweise: Die EKP sollte «in den Hintergrund» treten. Stellt sich die Frage der Cancel-Culture etwa nur, wenn sie der Mehrheit überhaupt auffällt?
Mittlerweile dreht sich der Meinungswind schon wieder. Das spürten wohl auch einzelne Parlamentarierinnen und Parlamentarier und bemühten sich nun wiederum, die Covid-Taskforce stumm zu stellen. Politik, die politisch berufene Wissenschaft und die neuere mehrheitsfähige Meinung würden so wieder einhellig ins gleiche Horn blasen. Ein solches Vorgehen löst das systemisch tieferliegende, aufmerksamkeitsökonomisch bedingte Problem der Wissenschaftsfreiheit nicht, in welchem die Rollen von «Gecancelten» und «Cancelnden» ineinanderfliessen und die scharfen Trennlinien zwischen Wissenschaft, Politik und Markt längst zerfasern.
Denn wer heute «der Wissenschaft» blindlings «folgt», folgt nicht selten einfach dem Markt der Mehrheitsmeinungen.
Daher wäre es besser, das Gremium neu zu besetzen mit Wissenschaftlern, welche unterschiedliche und auch abweichende, aber jeweils gut fundierte Ansätze zur Bekämpfung der Pandemie vertreten. Kurzum: es sollten nicht nur die populärsten Standpunkte erlaubt sein und sich durchsetzen, sondern diejenigen, die qualitativ anspruchsvolle wissenschaftliche Kriterien erfüllen, das heissst welche im zwanglosen Zwang des besseren Argumentes die jeweils eingenommene Position wissenschaftlich begründen können. Auf diesem Wege könnte ein offener statt ein «cancelnder» Diskurs entstehen, dessen Ergebnisse und Massnahmen das Vertrauen der Bevölkerung verdiente.
Bei uns publizieren Autorinnen und Autoren mit Expertise und Erfahrung zu bestimmten Themen Gastbeiträge. Diese müssen nicht zwingend mit der Meinung oder Haltung der Redaktion übereinstimmen.
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