Der Schulleiter einer Oberstufe verlässt seinen Posten unter Druck aus einem Teil der Lehrerschaft und der Öffentlichkeit. Zuvor waren mehrere negative Medienberichte über seine Arbeit erschienen. Hat der Mann alles falsch gemacht und geht richtigerweise? Vielleicht war auch alles ganz anders.
Rheineck im St.Galler Rheintal. Technisch gesehen eine Stadt, aber mit nur gerade rund 3500 Einwohnern. Die Oberstufe, kurz OSR, ist entsprechend von bescheidenem Ausmass. Etwa 75 Schülerinnen und Schüler und elf Lehrpersonen finden sich in den Real- und Sekundarklassen. Dazu kommt ein Schulleiter in einem Teilzeitpensum.
Vor zwei Jahren wurde Gregor Loser in diese Funktion gewählt. Loser ist kein Einheimischer, er wohnt in Rorschach und ist dort Mitglied des Schulrats. Der gelernte Primarlehrer hat sich ganz der Bildung verschrieben. Mit seiner eigenen Firma ist er in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig, schreibt Bücher und hält Vorträge zum Thema. Der Übergang von der Schule zur Berufsausbildung ist sein Leitthema. Eine Schulleiterausbildung kann er nicht vorweisen, aber das war in Rheineck kein Ausschlusskriterium; dort überwog bei seiner Wahl seine praktische Erfahrung.
Klarer Auftrag
Als Loser sein Amt in Rheineck antritt, hat man hohe Erwartungen an ihn. Er soll Bewegung in die teils verkrusteten Strukturen der OSR bringen; andere sprechen auch von «aufräumen». Verschiedene langjährige Beobachter des Schulwesens im Städtchen sehen im Gespräch mit unserer Zeitung eine gewisse Lethargie, die den bestehenden Lehrkörper damals erfasst hatte. Ihr Tenor: Einerseits war man froh, auf erfahrene Lehrkräfte zurückgreifen zu können; andererseits wollten und konnten damals einige von diesen die stetige Weiterentwicklung, die Schule heute braucht, nicht mittragen.
Der neue Schulleiter erhält die Aufgabe, diesen Prozess einzuleiten und voranzutreiben. Zwei Jahre später verlässt er den Posten, rein formal gesehen freiwillig, faktisch aber dazu getrieben durch eine Kampagne aus Lehrer- und Elternkreisen, unterstützt von Lokalmedien. Dazu muss er sich mit Prädikaten wie «diktatorisch» und «hochumstritten» eindecken lassen.
Alles falsch gemacht?
Was genau ist in dieser kurzen Zeit in Rheineck geschehen? Liest man die Berichterstattung von «Rheintaler» und «St.Galler Tagblatt», so kommt man zum Schluss: Hier ist ein übereifriger, selbstgerechter Schulleiter in einen funktionierenden Apparat eingedrungen, hat Unfrieden gesät und so ziemlich alles falsch gemacht - und verschwindet nun zum Glück.
Hört man anderen zu, heisst es: Hier kam endlich jemand, der die Oberstufe Rheineck fit für die Zukunft machen wollte, aber zu wenig Bereitschaft dafür vorfand. Und der eigentlich nur geltende Regeln durchsetzen wollte, aber als «Auswärtiger» keine Chance hatte, sich durchzusetzen.
Wer Recht hat? Schwer zu sagen von aussen. Aber es gibt viele Indizien dafür, dass die Geschichte falsch erzählt wurde. Beziehungsweise einseitig. Und das über eine lange Zeit hinweg, immer wieder, mit allen Merkmalen einer regelrechten Hetzkampagne. Wobei die erste Gruppe, die Kritiker, aktiv war, während die andere still blieb.
Es beginnt mit der Wortwahl. Ein Jahr nach der Wahl von Gregor Loser war im «Rheintaler» die Rede von einer «Kündigungswelle» in der Oberstufe. Ein Wort, das Angst macht. Acht Lehrpersonen seien gegangen. Der Schuldige war schnell ausgemacht: Es konnte ja nur der «Neue» sein, der zu viel verändert hatte. Hinterfragt wurde die nackte Zahl der Kündigungen nie. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass zum einen die Zahl acht nicht stimmt, es waren weniger. Und es gab in mehreren Fällen natürliche Gründe. Es war kein protestartiger Massenexodus. Es liegt in der Natur der Sache: Wenn sich personell lange nichts verändert, dann kommt es irgendwann geballt zum Abgang. Nur ein Beispiel: In einem Fall hatte ein Lehrer schon Jahre vor Losers Ankunft kommuniziert, er werde frühzeitig aufhören. Als er es dann in der Amtszeit von Loser tat, wurde auch diese Kündigung plötzlich zur statistischen Zahl gegen den Schulleiter. Obwohl die Ankündigung vor seiner Zeit lag.
Eltern für Lehrer
Doch auch von Elternseite gab es Widerstand gegen Gregor Loser. Eine Gruppe reichte eine Beschwerde gegen den Schulleiter beim Kanton ein, nur ein Jahr nach seinem Start. Sie bemängelte die Professionalität seiner Arbeit; seltsam genug, Eltern haben kaum Einblick in die Tätigkeit des Schulleiters und können die Qualität seiner Arbeit nicht direkt beurteilen. Im Wortlaut zeigte sich schnell, dass viele Eltern mit der Beschwerde in erster Linie die Lehrpersonen unterstützten, die unzufrieden mit Loser waren; dass die Kinder unter einer schlechten Leitung leiden, davon war nichts zu lesen. Die Rede war stattdessen davon, dass «geschätzte Lehrpersonen verunglimpft» würden, dafür würden die neuen Lehrkräfte «unverhältnismässig gelobt».
Kann man unverhältnismässig loben? Und wie können Eltern abschätzen, was im Lehrkörper vor sich geht, ausser natürlich vom Hörensagen? Ist das ein Fall, wo man dem seit Jahrzehnten geschätzten Lehrer einfach gerne glaubt, was er sagt? Geht es hier wirklich um die Leistung eines Schulleiters oder doch eher um persönliche Sympathien?
Selbst das Abschneiden bei den Kanti-Aufnahmeprüfungen, das in Rheineck mager ausfiel, wurde dem Schulleiter zur Last gelegt. Als ob dieser einige Monate nach Amtsübernahme bereits für die schulische Leistung in einzelnen Klassen, die er nicht einmal selbst unterrichtet, verantwortlich sein könnte. Alles in allem sah es so aus, als würde einfach alles zusammengetragen, was irgendwie ein schlechtes Licht auf den neuen Mann werfen könnte. Mit System.
Regeln durchgesetzt
Ein Beispiel illustriert das. Eine vor der Zeit von Loser eingeführte Helmpflicht für Schüler, die mit dem Velo in die Schule fahren, war faktisch nicht rechtens. Der Schulweg liegt in der Verantwortung der Eltern, nicht der Schulgemeinde; diese kann schlicht keine Auflagen machen für das Verhalten zwischen Schule und Zuhause. Loser setzte die Pflicht ausser Kraft. Eine Pflicht, die es im Grunde gar nie hätte geben dürfen. Eltern gingen auf die Barrikaden, die Zeitung protokollierte den Aufstand brav. Dabei wären die Eltern die einzigen, die bei ihren Kindern eine solche «Pflicht» einführen könnten. Loser hielt sich nur an die Regeln. Das aber sagte keiner. Und schrieb keiner.
An die Regeln hielt sich Loser auch sonst gerne. Lehrkräfte, die regelmässig zu spät zum Unterricht kamen - das gab es laut einigen Beobachtern -, wies er darauf hin, dass er das nicht toleriere. Ebenso wenig liess er es zu, dass Lehrkräfte auf dem Pausenplatz - einer rauchfreien Zone - rauchten. Die Betroffenen fanden das wenig lustig, und schon war der Begriff «diktatorisch» eingeführt, der sich danach in Zeitungsartikeln fand. Und das immer wieder. Kein Wunder, dass es die Zeitungsleser irgendwann glaubten.
Man erhält den Eindruck: Vor der Ära Loser konnte man als Lehrer oder Lehrerin in Rheineck freier schalten und walten. Nun wurden einfach die sowieso geltenden Regeln durchgesetzt, die Komfortzone der Altgedienten wurde gestört. Man kann das «diktatorisch» nennen; korrekter wäre es wohl, man würde es als «Führung» bezeichnen, und das ist die Aufgabe eines Schulleiters.
Negative Begriffswelle
Im Prinzip war Gregor Loser schon nach dem ersten Zeitungsartikel angezählt, der Knockout war eine Frage der Zeit. Seine Kritiker fuhren einen offensiven Kurs und fütterten offensichtlich auch die Medien fleissig. Von Sommer 2019 bis zu seinem Abgang erschienen mehrere Artikel in den Lokalzeitungen, durchsetzt von Begriffen wie Kündigungswelle, Krisenintervention, Unsicherheit, Resignation und eben «diktatorisch». Für die Leser, die keine Details kannten, summierte sich das zu einem negativen Eindruck.
Und erst, als alles schon vorbei war, kamen auch positive Stimmen, einige wenige auf offiziellem Weg, viele inoffiziell, zum Beispiel zu uns. Die Oberstufe sei unter Gregor Loser auf einem guten Weg gewesen, er habe überfällige Dinge konkret angesprochen, sei für Innovation gestanden, habe dringend nötige Entwicklungen angestossen. Einige der langjährigen Lehrkräfte und auch der Eltern hätten aber sehnsüchtig an die alten Zeiten gedacht und keine Veränderung gewünscht.
Man habe früher zwar Konstanz im Lehrkörper vorweisen können, sagt ein Schulbürger, aber wenig Bewegung in Richtung moderne Schule. Lehrkräfte blieben 20, 25, vielleicht auch einmal 30 Jahre, aber hinter vorgehaltener Hand meinten einige, es hätten es auch weniger getan. Die «guten alten Zeiten» wurden Gregor Loser zum Verhängnis. Er versuchte, die Oberstufe fit zu trimmen für die Zukunft, aber dabei geriet er denen in den Weg, die gerne einfach weitermachen wollten wie bisher.
Ehemalige Lehrer beteiligt
Ein offener Brief mehrerer Lehrkräfte, der an einen breiten Verteiler ging, zeigt, dass es keineswegs einfach eine Front zwischen Lehrkörper und Schulleiter gab. Loser wird dort nicht über den grünen Klee gelobt, aber es wird betont, dass er nach bestem Wissen und Gewissen das tun wollte, wofür er angestellt worden war und dass der eingeschlagene Weg richtig gewesen sei. Allerdings: Zu diesem Zeitpunkt hatte Loser bereits die Segel gestrichen, und angesichts der über ein Jahr andauernden Kampagne war auch imagemässig nichts mehr zu retten.
Auch ehemalige Lehrpersonen haben sich in diesem Jahr offenbar noch aktiv an dieser Kampagne gegen Loser beteiligt, liessen sich in WhatsApp-Gruppen zu ihrem früheren Chef vermelden und hintertrieben dessen Ende. Von der breiten Öffentlichkeit hatte Loser kaum Unterstützung zu erwarten. «Es muss ja etwas dran sein, wenn die Betroffenen sogar zur Zeitung gehen»: Das war ein oft gehörter Satz in Rheineck in den vergangenen Monaten. Es soll soweit gegangen sein, dass sich Lehrkräfte gegenüber den Schülern negativ über den Schulleiter ausliessen, und von dort aus wurden die «Informationen» zu den Eltern weiter getragen.
Eine echte Chance hatte Loser nicht. Im Mai 2019 fand ein Elternabend statt. Mit dabei waren der Schulpräsident und ein Vertreter der Krisenintervention, die inzwischen eingesetzt worden war. Nicht dabei: Der Schulleiter. Der Abend wurde allgemein als befriedigend wahrgenommen. Im Juli 2019, zwei Monate danach, kam die erwähnte Beschwerde von Eltern an den Kanton. Als Begründung nannten sie, nach dem Elternabend sei nichts passiert, nichts verändert worden. Innerhalb von wenigen Wochen hatten die bewussten Eltern also einen fundamentalen Wechsel nach ihrem Gusto erwartet. Was bei allem Verständnis unrealistisch ist.
Maulkorb?
Dem Angeschuldigten selbst waren weitgehend die Hände gebunden. Er konnte sich nicht näher zu den Fällen, die ihm zur Last gelegt wurden, äussern, weil sie meist mit dem Persönlichkeitsschutz verknüpft waren. Das «St.Galler Tagblatt» hingegen sprach von einem «Maulkorb», den der Schulleiter den OSR-Lehrkräften verpasst habe; sie dürften sich nicht zu den Unstimmigkeiten im Schulbetrieb äussern. Dabei ist auch das nur eine Selbstverständlichkeit: Kein Unternehmen lässt es zu, dass seine Angestellten in der Öffentlichkeit mit dem Arbeitgeber oder dem Chef abrechnen. Das wird intern gelöst. Fast jeder Arbeitsvertrag kennt die Loyalitätsklausel. Wenn jemand einen faktischen Maulkorb hatte, dann der Schulleiter.
Anfang August gab Gregor Loser bekannt, dass er per Ende August abtritt. Interimistisch wird die Oberstufe durch den Leiter der Primarschule geführt. Das dürfte bei Losers Kritikern für Aufatmen sorgen. Es ist nicht anzunehmen, dass jemand, der bereits dem Apparat angehört, grosse Einschnitte vornimmt.
Lehrerinnen und Lehrer haben einen harten Job. Sie stehen in einem viel höheren Spannungsfeld als noch vor einigen Jahrzehnten. Gleichzeitig haben sie eine hohe Jobsicherheit und eine klare Lohntabelle. Das sind durchaus Vorteile. Genau wie in der Privatwirtschaft darf man deshalb von Lehrkräften erwarten, dass sie bereit sind, Wandel mitzutragen, die Entwicklung der Organisation mitzutragen. Auch wenn das zum Teil einen Verlust des lieb gewonnenen Alltags bedeutet. Das scheint in Rheineck zum Stolperstein geworden zu sein. Nicht für die Lehrkräfte, aber für den Schulleiter. Es war ein Machtkampf, und es gab einen klaren Sieger.
Gregor Loser hat, mit einem klaren Auftrag ausgestattet, versucht, diese Entwicklung anzustossen und zu begleiten. Es wurde ihm zum Verhängnis. Dank einem guten Ruf im Bildungsbereich dürfte er keine Probleme haben, wieder eine neue Herausforderung zu finden. Wie es an der Oberstufe Rheineck weitergeht, bleibt hingegen abzuwarten.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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