«Tages-Anzeiger»-Leser drehen im roten Bereich: Seit dem überraschenden Leitartikel der Chefredaktorin vom Montag gegen die 13. AHV-Rente erhebt sich in der Leserschaft ein Shitstorm gegen das Blatt. Die rotgrüne Zürcher Bio-Bohème tobt, und Ruhe dürfte so schnell keine einkehren.
Auch ein tags darauf nachgereichter Artikel «In eigener Sache» vermochte die Empörung der meisten Leserkommentare nicht zu besänftigen. Die Aufregung über den überraschenden Positionsbezug gegen links ist damit wohl noch nicht ausgestanden – auch nicht beim unterlegenen, traditionell linken Flügel der «Tages-Anzeiger»-Redaktion.
Überraschend deutliche Chefredaktorin …
Hohe Wellen wirft die Position des «Tages-Anzeigers» (TA) deshalb, weil – wie einer der bereits über 200 Leser-Kommentare festhält – «sich die Redaktion zum erstenmal seit Jahrzehnten in einer wichtigen sozialpolitischen Vorlage auf die Seite der bürgerlichen Parteien geschlagen hat, deren Fussvolk notabene gespalten ist.» Die Sprache des Leitartikels war zudem klar und deutlich: «Es braucht ein Nein zu diesem kurzsichtigen Populismus» betitelte Chefredaktorin Raphaela Birrer ihre Ablehnung der gewerkschaftlichen Initiative.
Und setzte sich damit weit ab von Positionen, wie man sie üblicherweise vom Tagi erwartet – und dort auch meistens findet: «Weit rechts von der rot-grünen Zürcher Bio-Bohème», wie der erwähnte Kommentator anmerkt.
…überraschende Meinungsbildung der Redaktion
Die überraschende Ablehnung der 13. AHV-Rente durch die Redaktion liess die Emotionen unter der Leserschaft hochkochen. «Wir stellen grundsätzlich fest, dass die Wogen bei der Abstimmung zur 13. AHV-Rente ausserordentlich hoch gehen,» schreibt Raphaela Birrer am Dienstag in einem Artikel «Wie unsere Redaktion vor Abstimmungen zu ihrer Position kommt». In dem sie darauf verweist, dass der TA nach einer «fein austarierten Berichterstattung» zu Abstimmungsvorlagen jeweils redaktionell Stellung nehme. Und zwar, nachdem die Haltung der Redaktion in einem «demokratischen Verfahren» ermittelt wurde.
Bei dieser Meinungsbildung habe die Chefredaktorin ein Vetorecht, von dem sie im vorliegenden Fall aber nicht Gebrauch gemacht habe, «weil ihre Meinung deckungsgleich mit jener der per Stimmabgabe demokratisch ermittelten Mehrheit der Redaktion ist.» Dieses Vorgehen sei nicht neu, sondern werde etwa auch bei der NZZ oder den Zeitungen der CH Media so gehandhabt.
Über den Verlauf dieser internen Meinungsbildung ist bisher noch nichts öffentlich bekanntgeworden. Doch darf man davon ausgehen, dass die Meinungen zur 13. AHV-Rente auf der Tagi-Redaktion geteilt sind – eigentlich hätte man anhand der Verteilung der politischen Präferenzen eher ein redaktionelles Ja zur 13. AHV-Rente erwartet. Der Ausgang der internen Abstimmung, über die keine Details bekannt sind (offen? geheim? Stimmbeteiligung?) dürfte denn auch denkbar knapp gewesen sein. Und jedenfalls ziemlich weit weg von der Erwartungshaltung der eigenen Leserschaft.
«Fehler zugeben und sich entschuldigen!»
Im Gegensatz zu redaktionellen Stellungnahmen des «Tages-Anzeigers», die den Erwartungen seiner Leserschaft meist entsprechen, wurde diesmal ein solcher Positionsbezug im Leserforum entweder grundsätzlich abgelehnt oder dessen Zustandekommen misstrauisch hinterfragt. Neben Verständnis für eine abschliessende Bekanntgabe der eigenen Haltung – auch dann, wenn man ihr nicht zustimme – gab es vor allem harsche Kritik, ja Beschimpfungen der Chefredaktorin: Ihr Leitartikel sei «absolut verantwortungslos», eine «Fehlleistung», ja eine «Publikumsbeschimpfung». Frau Birrer solle sich schämen, «ihren Fehler zugeben und um Entschuldigung bitten», konnte man mehr als einmal lesen.
Was bringt das, fragt ein weiterer Kommentar, «wenn beide grossen Zürcher Tageszeitungen im Einklang bürgerliche Positionen vertreten»? Der TA trage damit zum «Einheitsbrei» der Schweizer Medien bei. Von dem bei genauerer Betrachtung nicht die Rede sein kann.
Wo soll der Einheitsbrei sein?
Nicht angesichts der üppig abgedruckten, meist für die 13. AHV-Rente plädierenden Leserbriefe, und schon gar nicht angesichts der Meinungsbildung durch das Schweizer Fernsehen, das es mit seiner «Arena» zur Abstimmung fertigbrachte, die AHV-Vorlage durch zwei prominente Befürworter, eine einzige Gegnerin aus den Reihen der SVP und eine Bundesrätin diskutieren zu lassen, die deutlich durchblicken liess, dass sie hier nicht etwa ihre eigene Meinung, sondern (leider) jene des Bundesrates vertrete. Und bei gewissen Argumenten der gegnerischen St.Galler Ständerätin Esther Friedli indignierte Blicke nach rechts richtete.
Dass nach der überraschend deutlichen Ablehnung der 13. AHV-Rente durch die Chefredaktorin beim «Tages-Anzeiger» nun Ruhe einkehrt, ist nicht zu erwarten. Nicht bei den Leserinnen und Lesern, und auch nicht beim traditionell starken, für einmal anscheinend unterlegenen rot-grünen Flügel der Redaktion, von dem man vermutlich noch hören dürfte. Affaire à suivre.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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