Nach dem Beststeller «Der letzte Feind» (2020) präsentiert Giuseppe Gracia mit «Der Tod ist ein Kommunist» ein Buch, das sich liest wie ein vergnügter Fiebertraum. Die Antwort auf den Wahnsinn unserer Corona-Zeit. «Die Ostschweiz» publiziert das gesamte Buch in mehreren Teilen – inklusive Audiofile.
Das Buch kann über den Verlag oder Orell Füssli bestellt werden.
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Kapitel 2
Noch nie war Hofstetter entführt worden und hätte sich nicht träumen lassen, dass es eines Tages in einer Limousine weit über seiner Einkommensklasse geschehen würde, auf dem Rücksitz neben einer schönen Frau, die nach Parfüm roch (Zitrus in der Kopfnote, Holz in der Basisnote).
«Wer sind Sie?»
Die Frau betrachtete ihn mit dem Schweigen ihrer grünen Augen, während sie hin- und her geschüttelt wurden, weil der Fahrer mit hoher Geschwindigkeit durch die Strassen schoss und eine Tiefgarage ansteuerte. Eine Garage, die Hofstetter – seit Jahren in Zürich – noch nie aufgefallen war. Im Innern der Garage quietschende Reifen im Halbdunkel, und im Innern des Halbdunkels weiterhin das Parfüm der Unbekannten mit den grünen Augen, durchschnitten vom hereinflackernden, vorbeigleitenden Neonlicht der Tiefgarage.
«Bitte, ich bin total unwichtig. Ich bin Journalist.»
Keine Antwort, nur ein Grunzen vom Fahrer vorne.
Als der Wagen zum Stillstand kam, erkannte Hofstetter, dass die unbekannte Schöne den kleinen Bildschirm bediente, der an ihrem rechten Handgelenk befestigt war. Es erklang ein Summen, während die Frau den Bildschirm auf Hofstetter richtete.
«Ich muss ins Büro,» sagte er. «Eine Sonderbeilage zur kriselnden Uhrenindustrie.»
Das Ding am Arm leuchtete auf – ein plötzlicher, geräuschloser Blitz, der Hofstetter in die Bewusstlosigkeit schickte.
Für einen Moment kam es ihm so vor, als sei er wieder in der Redaktion, zurück im Zeitungsverlag. Zurück in der gewohnten, seit Jahren sich im Kreis drehenden grauen Maus seines Alltags. Die üblichen Gesichter der Kollegen. Redaktionssitzung mit Kaffee. Sitzen und Schreiben am Computer. Wieder Kaffee. Sitzen und Korrigieren am Computer. Sitzen und Zeitvertrödeln am Computer. Erneut Kaffee und noch mehr Zeitvertrödeln am Computer.
Zum Glück erwachte Hofstetter bald aus diesem Alptraum und stellte beruhigt fest, dass er noch immer entführt wurde.
Inzwischen hatte man ihn in einen grossen, klimatisierten Raum geschleppt. Er war an einen – angenehm weichen – Bürostuhl gefesselt.
«Hallo!»
Keine Antwort.
Hofstetter bemerkte, vor sich auf dem Boden, das Buch des Arztes aus der Hobelberg-Klinik: Ein kolossaler Betrug.
«Ich bin nicht dieser Autor! Bitte, ihr habt den Falschen erwischt!»
Nichts, Stille.
«Hört zu, ich gebe euch die Adresse des Mannes, der dieses Buch geschrieben hat. Dann könnt ihr ihn euch schnappen.»
Nun öffnete sich die Tür. Ein Mann mit graumelierten Haaren und randloser Brille betrat den Raum, gefolgt von der Frau mit den grünen Augen. Sie musterte ihn aufmerksam, als finde sie ihn besonders interessant.
«Wirklich,» bat er. «Die Sonderbeilage zur Uhrenindustrie bringt wichtige Inseratekunden.»
«Sie haben keine Ahnung, was los ist?»
«Was los ist? Ich bin gefesselt.»
Der Mann mit der randlosen Brille warf der Frau einen Blick zu, und diese bediente wieder das Ding an ihrem Arm, den Flachbildschirm. Diesmal löste es eine Projektion aus, eine Art Hologramm, etwa in der Mitte des Raums. Es erschienen Szenen aus der Tagesschau, Bilder von Massenprotesten, Strassenschlachten, Bürgerkrieg. Fotos von Krisensitzungen, Gipfeltreffen. Es folgten Statistiken, dazu eine Computersimulation der Weltbevölkerung, wobei viele, um den Globus verteilte rote Punkte im Zeitraffer blau wurden, bis nur noch Blau zu sehen war.
«Sie verstehen?» fragte der Mann am Ende der Vorführung.
«Sie betreiben Marktforschung?»
Der Mann schwieg.
«Sie sind ein verzweifeltes Marketingunternehmen. Sie entführen Journalisten, um in die Zeitung zu kommen.»
Die Frau mit den grünen Augen kam zu Hofstetter und beugte sich zu ihm herab, mit dem warmen, weichen Nebel ihres Parfümduftes. Wieder war es, als wolle sie ihn genau mustern, sich sein Gesicht, die Nase, die Stirn, die Haare einprägen. Dann küsste sie ihn plötzlich – mit Lippen wie Rosenblätter.
Hofstetter begann zu zittern.
«Ich werde ihn lieben,» sagte sie. «Ich habe es gewusst, ich habe es von Anfang an gewusst.»
«Bitte,» keuchte Hofstetter, «das ist Folter.»
Der Mann mit der randlosen Brille schickte die Frau hinaus.
«Du kannst ihn nachher sehen, im Hotel,» sagte er.
Als die Frau weg war, erklärte der Mann: «Mein Name ist Brenner.»
«Gratuliere.»
Brenner verschränkte die Arme. «Ich werde Ihnen erklären, warum Sie hier sind. Sie werden zuhören. Sie werden offen sein für die Möglichkeit, dass das, was Sie hören, wahr ist.»
Hofstetter nickte. «Ich werde offen sein wie nie.»
Brenner begann zu sprechen. Die Verschwörungstheorie, erklärte er, wonach es globale Mächte gebe, die verschiedene Pandemien sowie die Klimakrise dazu nutzten, um einen Umbau der sozialen und ökonomischen Grundlagen der Menschheit durchzuführen, sei keine Theorie, sondern eine Tatsache. Das werde dem einfachen Volk verschwiegen, denn dieses sei zu dumm und würde, wenn es die Wahrheit wüsste, nur Probleme machen, also den grossen Plan stören. Dieser grosse Plan allerdings, erklärte Brenner, sei nicht das Problem, denn auf der Welt habe es immer grosse Pläne gegeben, genauer gesagt: Es habe immer Reiche und Mächtige gegeben, die versucht hätten, der Menschheit ihren Stempel aufzudrücken. Diese Mächtigen seien zum Glück aber regelmässig gestorben, und so seien auch ihre Pläne gestorben, vom Winde in alle Himmelsrichtungen der Vergänglichkeit gestreut, so Brenner in einem Anflug von Poesie. Irgendwann beende der Tod nun einmal alles, meistens mitten unter der Woche. Grosse Pläne seien am Ende nie das Problem, so Brenner. Das wirkliche Problem der Menschheit bestehe in den Kollateralschäden des Grössenwahns. Während Pläne und Grössenwahn vergänglich seien, könnten die Kollateralschäden eine sehr langlebige Wirkung entfalten. Wirtschaftlicher Massenruin, Bürgerkrieg, ja die totale Auslöschung der Menschheit.
«Bisher alles klar?» wollte Brenner wissen.
«Ganz und gar nicht,» erwiderte Hofstetter.
«Gut», fuhr Brenner fort. «Das Problem ist, dass wir in wenigen Jahren eine verhängnisvolle Demokratie- und Freiheitskrise erleben werden, verschärft durch die Klimakrise.»
«Und das wissen Sie ganz sicher?»
«Todsicher. Verschiedene wirtschaftliche und politische Krisen führen zum Untergang der Menschheit, wie wir sie heute kennen.»
«Und das wissen Sie so genau, weil Sie – in die Zukunft sehen?»
«Ich bitte Sie.» Für einen Moment tanzte die Andeutung eines Schmunzelns um Brenners sachlichen, trockenen Mund. Dazu glänzte die randlose Brille. «Niemand kann in die Zukunft sehen.»
«Natürlich nicht.»
«Nein. Wir kommen aus der Zukunft. Aus dem Jahr 2075.»
«Ach so,» antwortete Hofstetter.
«Genauer gesagt ist es aus Ihrer Perspektive die Zukunft, aus der wir kommen. Für uns ist es die Gegenwart, aus der wir kommen, um hier sein zu können, in der Vergangenheit, Ihrer Gegenwart.»
«Vollkommen logisch,» sagte Hofstetter. «Hören Sie, das ist alles sehr anstrengend. Die Fahrt in der Tiefgarage mit überhöhter Geschwindigkeit, das Warten, gefesselt an einen Bürostuhl. Ich bin durstig.»
Brenner wirkte verständnisvoll: «Im Hotel werden Sie alles bekommen, was Sie wünschen. Dort wartet Nathalie.»
«Die Nathalie, die mich entführt hat, um mich zu fesseln und zu küssen?»
«Genau die.»
Hofstetter überlegte. Noch immer lag vor ihm am Boden das Buch des Arztes aus der Hobelberg-Klinik. Nun trat Brenner einen Schritt vor. Er hob das Buch auf und blätterte darin.
«Ich weiss, was Sie denken, Herr Hofstetter. Sie denken, dass dieses Buch die Antwort liefert auf die verrückten Dinge, die ich Ihnen gerade erzählt habe. Die Antwort auf alles, was ihr Freund, der Professor, in der Klinik durchmacht. Ist es nicht so?»
«Wieso sollte ich das denken?» fragte Hofstetter. «Sie behaupten, aus der Zukunft zu kommen, nachdem die Welt untergegangen ist, wegen einer globalen Krise rund um Pandemien und Klimawandel. Und dieses Buch behauptet, dass zu Tode gelangweilte Leute an Verschwörungen glauben, um sich endlich wieder lebendig zu fühlen, als Rebell im Kampf gegen das Böse. Natürlich glaube ich Ihnen und denke, das Buch liegt total falsch.»
Brenner betrachtete das Buch, vielleicht überrascht. «Dieses Werk behauptet, es gibt keine bösen Mächte gegen das menschliche Leben?»
«Nun ja, es ist mehr eine empirisch-systematische Untersuchung der Grundlagen der Bedingungen verschwörungstheoretischer Projektionen,» erklärte Hofstetter, «ausgelöst von vitalen Verlustängsten.»
Brenner warf das Buch in den Papierkorb neben dem schwarzen Tisch, den Hofstetter bisher gar nicht bemerkt hatte (den Papierkorb, nicht den Tisch).
«Nun gut,» fuhr Brenner fort. «Ich habe nicht erwartet, dass Sie sofort verstehen. Bevor wir in die Vergangenheit geschickt wurden, warnte man uns vor dem grossen Unglauben Ihrer Generation, Herr Hofstetter.»
«Kann man nicht gross genug einschätzen, diesen Unglauben.»
«Es war klar, dass Sie nichts von der Wahrheit hören wollen. Und ich sehe, dass Sie müde sind. Nur noch ein paar Fragen, dann lasse ich Sie zu Nathalie ins Hotel.»
«Sie können mich sofort zu Nathalie lassen.»
«Keine Fragen?» Brenner wirkte enttäuscht. «Sie wollen nicht wissen, wie es möglich ist, dass wir durch die Zeit reisen? Sie wollen nicht wissen, wie wir es geschafft haben, den künftigen Untergang der Menschheit zu überleben, um zurück in die Vergangenheit reisen zu können?»
«Wenn Sie es so formulieren, sind das doch interessante Fragen.»
«Die Erde ist nicht explodiert oder so etwas,» erklärte Brenner. «Pflanzen und Tiere sind unversehrt. Nur die Menschheit, wie Sie sie kennen, ist verschwunden.»
«Lassen Sie mich raten: Sie überlebten in einem unterirdischen Labor, als Wissenschaftler, die seit dem Atomkrieg Wege suchen, die Oberfläche neu zu besiedeln. Dazu bauten Sie eine Zeitmaschine, um in der Vergangenheit einen genialen Professor aus der Klinik zu holen, der dabei helfen kann, die böse Zukunft abzuwenden, noch bevor der Untergang stattfinden kann. Sie sind gekommen, um die Menschheit der Zukunft aus der Vergangenheit heraus zu retten.»
«Ich bitte Sie! Das ist doch kein überkonstruiertes, überbezahltes Hollywood-Drehbuch.» Brenner seufzte. «Es ist besser, wenn ich Sie jetzt ins Hotel transferieren lasse. Später, wenn Sie die Wahrheit akzeptieren, werden Sie erfahren, wie und warum wir gekommen sind, was unsere Mission ist.»
«Wie meinen Sie das, transferieren?»
Nun hielt Brenner etwas in der Hand, eine Mischung aus Pistole und Haartrockner. «Keine Sorge, es tut nicht weh. Es wirkt, bis sie bei Nathalie sind. Wir dürfen nichts riskieren. Vonneguts Leute sind überall. Die Kinder der Schlange verfolgen uns. Weil wir die Kinder des Lichts sind. Weil sie wollen, dass unsere Mission scheitert.»
«Nein, warten Sie! Wozu das Pistolen-Haartrockner-Ding? Warum benutzen Sie nicht den Bildschirm am Handgelenk, wie vorhin Nathalie?»
«Nein, das hier ist besser. Macht länger bewusstlos.»
«Es könnte aber doch weh tun.»
Brenner zögerte. «Nun ja, vielleicht brennt es ein wenig im Kopf. Oder in den Genitalien. Aber das legt sich wieder.»
«Warten Sie, ich habe jetzt doch Fragen!»
«Ja?»
«Zum Beispiel das Hologramm am Anfang, mit dem Sie mir Bilder gezeigt haben. Wissen Sie noch? Was hatte das zu bedeuten?»
«Tagesschaubeiträge und Medienberichte aus der Zukunft, um Ihnen zu beweisen, dass wir die Wahrheit sagen.»
«Medienberichte aus der Zukunft?»
«Bilder von Bürgerkriegen und bröckelnden Regierungen, die überall im Westen das Ende der Demokratie einläuten. Computersimulationen, welche die Regierungen verzweifelt veröffentlichen werden, um vor dem Untergang zu warnen. Erfolglos.»
«Alles klar.» Hofstetter überlegte. «Und wer sind Vonneguts Leute? Wer sind diese Kinder der Schlangenlichter oder Kinderschlangen?»
«Vonnegut, die Kinder der Schlange. Wir werden davon sprechen, Herr Hofstetter, aber nicht jetzt.»
Und damit aktivierte er das Pistolen-Haartrockner-Ding.
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Sein neuer Roman «Auschlöschung» (Fontis Verlag, 2024) handelt von der Selbstauflösung Europas.
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