Wer glaubt, der St.Galler SVP-Nationalrat Thomas Müller provoziere aus Prinzip, irrt. Er kann nicht anders.
Ehrlichkeit. Das ist eine der Tugenden, die wir uns von anderen wünschen. Und jeder tut sich selbst dann und wann schwer damit. Ehrlich sollen auch Politiker sein. Das tun, was sie sagen und sagen, was sie tun. Das ist unsere Erwartung. Macht es aber einer dann wirklich, haben wir unsere liebe Mühe damit. Denn wir wollen ja gar nicht immer die Wahrheit hören. Und wir möchten auch nicht unbedingt, dass einer wahrhaftig handelt.
Thomas Müller war ehrlich, als er von der CVP zur SVP wechselte. «Kalkül!», riefen die Kritiker schnell. Der Anwalt habe sich einfach bei der SVP bessere Chancen ausgerechnet, hiess es. Das war möglicherweise auch eine Überlegung, in erster Linie aber war es ein ehrlicher Schritt, der zudem geharnischte Reaktionen aus der CVP hervorrief – was man auch aushalten muss. Unehrlich wäre es gewesen, getragen von einer Partei Karriere zu machen, mit der man sich nicht mehr identifizieren kann.
Debatte angestossen
In anderen Fällen, in denen der Rorschacher Stadtpräsident sagte, was er dachte, und tat, was er sagte, wurde ihm vorgeworfen, populistisch zu handeln. Als er einer Sozialhilfeempfängerin gewissermassen die Tür zeigte und sie nach St.Gallen abschob, war Müller der Buhmann der vereinigten Front der Edlen und Guten. Dass er damit grundsätzliche Probleme der Sozialhilfe aufzeigte und eine Debatte darüber anstiess, wurde nicht wahrgenommen.
Das ist Müllers Problem: Er spricht über Dinge, über die man unbedingt sprechen sollte, die aber unbequeme Fragen aufwerfen. Oder anders gesagt: Es ist sehr viel einfacher, den Sozialapparat einfach zu finanzieren als ihn zu hinterfragen. Jedenfalls für diejenigen, welche die Rechnung nicht ausbaden müssen. Es ist ja nicht so, dass der Stadtpräsident persönlich hätte bluten müssen für die Unkosten. Jedes andere Gemeindeoberhaupt hätte die Augen vor dem Fall verschlossen, weil man damit einfach keinen Blumentopf gewinnen kann. Thomas Müller scheint sich, und das ist wirklich unglaublich, für die Finanzen seiner Stadt und die Lage der Steuerzahler zu interessieren.
Gezielte Provokation?
Wer den Nationalrat persönlich trifft, hat es mit einem umgänglichen, korrekten und sympathischen Mann zu tun. Unter einem Hardliner versteht man etwas anderes. Mehr noch, man hat den Eindruck, Müller sei Harmonie wichtig, er will sich mit den Leuten gut verstehen, und einfach eine Provokation zu lancieren, um Streit zu suchen: Das ist nicht seine Sache. Als er im Nationalrat einen umstrittenen Vergleich der deutschen Regierung mit dem einstigen NS-Regime formulierte, war wieder allen klar: Müller will in die Schlagzeilen. Wäre das sein Ziel, könnte er unablässig provokante Vorstösse lancieren oder gezielt das Mikrofon zu heiklen Themen suchen.
Aber das tut er nicht, im Gegenteil. Seine Vorstösse sind meist alles andere als medientauglich. «Produktekennzeichnunen zu Umweltfreundlichkeit im Do-it-yourself-Markt», «Leistungsabbau der SBB auf dem Lande, Einstellung der Drittverkaufsstellen»: Das sind nicht die Fragen, die den Stammtisch bewegen. Wäre er ein Garant für kernige bis skandalöse Aussagen, würden ihn nationale Medien regelmässig vors Mikrofon zerren. Das geschieht so gut wie nie. Erst dann, wenn der SVP-Politiker von sich aus einen Grund dazu gibt.
Klare Aussagen
Das tat er, als er im «St.Galler Tagblatt» vom «gesunden Rassismus» sprach, der in Brasilien, der Heimat seiner Frau, herrsche. Ein gefundenes Fressen für alle, die Müller ohnehin für einen fremdenfeindlichen Rechtsausleger halten. Der Terminus hätte mit wenig Schwierigkeiten auch anders ausgelegt werden können: Müller sprach nicht dem Rassismus das Wort, sondern beschrieb die Haltung von Menschen, welche die Auswirkungen der Zuwanderung kritisch beurteilen und Bestehendes schützen wollen. Diese Haltung muss man nicht gut finden, aber sie hat nichts mit Rassismus zu tun, wie er landläufig verstanden wird: Der grundsätzlichen Ablehnung von Menschen einer anderen Rasse. Letzteres kann man Thomas Müller kaum vorwerfen. Der einzige Vorwurf könnte lauten, dass er sich missverständlich ausgedrückt hat. Nur: Die meisten Politiker lavieren vor lauter Angst vor einer missverständlichen Formulierung so lange um die Sache herum, bis keine Aussage mehr übrig ist.
Vielleicht ist es ja das, was wir wollen.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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