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Interview

«Der Wissensstandort Schweiz endet am Bürerstich»

Die Sanierung der St.Galler Stadtautobahn ruft die Politik auf den Plan. Linke Stadtpolitiker fordern, dass die St.Galler Bevölkerung während der Sanierung der Stadtautobahn vermehrt ausserhalb der Stosszeiten reisen soll. Standortförderer Remo Daguati befürchtet das Schlimmste.

Stefan Millius am 23. Januar 2020

Die Forderung von linker Seite: Der Verkehr müsse um 10 bis 20 Prozent reduziert werden. Kanton und Stadt wollen als Gegenmassnahme mehr Busse fahren lassen und sensibilisieren die Bevölkerung mit der Marketingfigur «Fredi Vogl» zum Umsteigen. Für Standortberater Remo Daguati sind die geplanten Massnahmen pures Gift für die Standortentwicklung, wie er im Gespräch sagt.

Maria Pappa hatte im Dezember in einem Interview im St.Galler Tagblatt von einem «Bruch» gesprochen, wonach die Planung des öffentlichen Verkehrs auf der St.Galler Seite in Schieflage gekommen ist. Können Sie diesen Bruch nachvollziehen?

Remo Daguati: Irgendwann nach 2014 hat man beim Kanton eine Weichenstellung vorgenommen, die fatale Auswirkungen auf die Region St.Gallen hat. Damit man die neu vier stündlichen Fernverkehrsverbindungen schaffen konnte, opferte Beni Würth seine Kantonshauptstadt im S-Bahn-Bereich. Ein bisschen Kompromisse zum Thurgau, die neu beim Knoten Winterthur zuerst einfahren dürfen, geschwängert mit Kompromissen zu den Ausserrhodern, welche die Verbindung Herisau – St.Gallen – Konstanz verbessert erhielten. Der Schwenker bewirkte massive Kreuzungskonflikte zwischen der St.Galler S-Bahn und dem Fern- sowie Güterverkehr auf der Achse St.Gallen - Zürich. Weichen sind auf der St.Galler Seite plötzlich am falschen Ort oder müssten neu gebaut werden. Perronlängen stimmen nicht mehr, Züge können nicht mehr aneinander vorbei.

Das sind ziemlich viele Vorwürfe in einer Antwort.

Remo Daguati: Für den Deal von Beni Würth im Fernverkehr und mit den Nachbarkantonen wurden Wittenbach, St.Fiden, Haggen, Bruggen und Winkeln geopfert. Auch in Wil und Gossau gibt es seither erhebliche Nachteile. Ein Einzugsgebiet von über 100'000 Personen hängt seit dem Entscheid an einem völlig verkrüppelten S-Bahn-System. Die Fehlentscheide rächen sich nun doppelt, wo die Stadtautobahn saniert wird und die Frequenzen fehlen.

Nun ist ja sein Nachfolger, Bruno Damann am Drücker. Sie werfen auch ihm Untätigkeit vor?

Remo Daguati: Die aktuellen Planungen beim Volkswirtschaftsdepartement würden ab 2040 oder noch später greifen. Bis dahin ist der Wissensstandort St.Gallen am Boden.

Übertreiben Sie nicht ein wenig? So ein bisschen Bahnanbindung kann doch nicht gleich den ganzen Wirtschaftsstandort gefährden?

Remo Daguati: Ich konzipiere im ganzen Land Innovations- und Schlüsselstandorte. Wer mit dem Kopf arbeitet, fährt gerne Zug, da es sich dort arbeiten lässt. Ab der Perronkante eines Haupt- oder S-Bahnknotens kann man in 350 bis 450 Metern Fussdistanz wissensbasierte Jobs im obersten Segment ansiedeln. Dies aber nur, wenn die Fahrzeiten von Tür zu Tür die maximale Schwelle von 90 Minuten nicht übersteigen. Da die Fernverkehrsstrecke Zürich-St.Gallen immer noch gleich schnell ist wie in den 70er-Jahren, die S-Bahn verkrüppelt wurde sowie die Busse und Postautos nach dem Prinzip Zufall losfahren oder im Stau stecken, funktioniert St.Gallen als Dienstleistungsstandort nur noch im direkten Umfeld seines Hauptbahnhofs.

Das ist ja nicht nichts, das ist eine grosse Fläche.

Remo Daguati: Das könnte man meinen. Der Wissensstandort Schweiz endet heute aber in Uzwil vor dem Bürerstich. Im Umfeld des Hauptbahnhofs St.Gallen hat der Kanton sichergestellt, dass alle Gebäude und Entwicklungsflächen - etwa Bahnhof Nord - in Fussdistanz nur für staatliche Funktionen zur Verfügung stehen. Und das Union-Gebäude, ein attraktives Bürogebäude an bester Innenstadtlage, soll nun auch noch zur staatlichen Bibliothek umfunktioniert werden. Entwicklungsflächen für die Wirtschaft gibt es nur noch in St.Fiden, Haggen/Bruggen und Winkeln, also ausgerechnet dort, wo die S-Bahn nicht funktioniert. Private und wissensbasierte Arbeitsplätze entwickeln sich denn auch in unserer Stadt seit Jahren negativ. Dafür wachsen die Verwaltungsgebäude und die Jobs beim öffentlichen Sektor in unserer Region in immer neue Höhen.

Und was müsste aus Ihrer Sicht sofort getan werden?

Remo Daguati: Die IGöV Stadt St.Gallen hat ihre Forderungen deponiert. Beim Angebot muss man sich jetzt sofort auf einen Viertelstundentakt für die Achse Wittenbach-St.Fiden-St.Gallen-Haggen-Herisau fokussieren. Eine Lösung funktioniert auf der bestehenden Infrastruktur, verlangt aber neue betriebliche Lösungen. Damit ist auch das Entwicklungsgebiet St.Fiden wieder angeschlossen. Die Stadt St.Gallen müsste parallel dazu ihr Überangebot bei den Buslinien im Talkessel abbauen. Mit einer S-Bahn und den geplanten Verbesserungen beim Fernverkehr würden wir mittelfristig wenigsten im Osten der Stadt wieder wettbewerbsfähig.

Und was ist mittelfristig zu tun?

In einem zweiten Schritt ist die Achse St.Gallen – Wil, also der Westen unserer Stadt, zu heilen. Hier wird man nicht darum herumkommen, in wirksame Infrastrukturen zu investieren. Dazu muss aber die Planung sofort intensiviert werden. Über die S-Bahn-Knoten im Raum Bruggen/Haggen kann der künftige Innovationspark bei der EMPA im Lerchenfeld besser angebunden werden. Ein S-Bahn-Knoten Winkeln erschliesst des Entwicklungsgebiet St.Gallen-West/Gossau-Ost mit wettbewerbsfähigen Verbindungen. Beides müsste im Interesse des Kantons sein, zumal er in Winkeln sein Sicherheitszentrum plant. Damit wären auch die wichtigen Voraussetzungen geschaffen, damit man in der Region St.Gallen mittelfristig auf ein Hub-System wechseln kann.

Sie engagieren sich als stramm bürgerlicher Parlamentarier für den öV. Woher Ihr Engagement?

Remo Dagutati: Als Standortberater habe ich keine moralischen Scheuklappen, welcher Verkehrsträger den Job macht. Letztendlich wollen Talente, Bürger und Pendler so rasch wie möglich von A nach B kommen – und zwar mit wenigen Umsteigevorgängen. Die Region St.Gallen überlebt heute als Standort aber nur dank seiner Anbindung über den motorisierten Individualverkehr (MIV). Wer hier eine Reduktion der Fahrten fordert, schneidet direkt in unsere Hauptschlagader. Seit die Sanierung der Stadtautobahn angelaufen ist, spürt man die Anspannung auf der Strasse in und rund um St.Gallen förmlich. Autos wie strassengebundene Busse und Postautos stecken immer häufiger und länger im Stau. Eine schnelle, schienengebundene S-Bahn könnte diese Frequenzen abgreifen und würde auch den Umstieg von Auto auf den öV erleichtern. Kanton wie Stadt unternehmen derzeit aber alles, um weiterhin in die völlig falsche Richtung zu gehen.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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