Die Schweiz ist ein Kompromiss und wägt ab. Gut so.
Es gibt viele Gründe, wieso die Schweiz sich in anderthalb Jahrhunderten vom bergigen Armutsflecken, wo die Einwohner ihr Heil in der Auswanderung suchten, zu einer der erfolgreichsten, reichsten und stabilsten Nation der Welt verwandelt hat.
Die Notwendigkeit zum Kompromiss, das Abwägenmüssen, die Abscheu vor allem Absoluten ist ein wichtiger Faktor dabei. Nichts hat in der Schweiz den Anspruch auf Absolutheit. Nicht einmal das Recht auf Leben, wie es in der Bundesverfassung festgehalten ist, gilt uneingeschränkt: der „finale Rettungsschuss“ der Polizei relativiert dieses Recht seit einiger Zeit gleich wie seit alters her die Notwehr.
Schon das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann nicht absolut gelten. Sonst müssten Verkehrsunfälle, selbst zugefügte Verletzungen, alle Arten von körperlichen Beschädigungen nicht nur möglichst minimiert, sondern schlichtweg verboten, verhindert werden. Absurd.
Natürlich ist auch die Gesundheit kein absolutes Gebot. Menschen dürfen sich selbst schädigen, beispielsweise durch Tabak- oder Alkoholgenuss. Damit verwirken sie nicht ihr Recht, bei Folgewirkungen behandelt zu werden. Aber eine Säuferleber, eine Raucherlunge setzt den Besitzer nicht zuoberst auf die Liste von Anwärtern auf Transplantationen.
Dem Verlust oder der Beschädigung von Körperteilen oder Funktionen ist ein Wert zugemessen, der für Versicherungsleistungen oder Schadenersatz herangezogen wird. Niemand hat das Recht, den Ausstoss von Autoabgasen oder aus Industriekaminen zu verbieten, weil das seine Gesundheit schädigen könnte.
Es sind Abwägungen, Kompromisse, die geschlossen werden. Abwägungen zwischen Gesundheitsschädlichkeit und gesellschaftlichem Nutzen, beispielsweise. Niemand würde bestreiten, dass ein Schadenersatz für einen ums Leben gebrachten Über-80-Jährigen anders ausfallen muss als bei einem 30-Jährigen.
Der Präsident des Deutschen Bundestags, der langjährige Finanzminister Wolfgang Schäuble, hat sich mit einem wohlüberlegten Warnruf an die Öffentlichkeit gewandt: «Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen.» Er fügte hinzu, dass die Behauptung, alles andere müsse vor dem Schutz des Lebens zurücktreten, nicht richtig sei.
Dennoch wird das in der Schweiz als Begründung für einen noch nie dagewesenen Notstopp des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens verwendet. Nicht nur das, jede Kritik daran wird im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Totschlagargument abgebürstet, dass man ja nicht verantwortungslos gesundheitliche Schäden in Kauf nehmen dürfe, um finanzieller oder wirtschaftlicher Vorteile willen.
In dieser Behauptung sind gleich vier Denkfehler enthalten. Der erste besteht darin, dass sich die Behauptungen über die Dimensionen der zu erwartenden Schäden durch Gesundheitsbeamte oder selbsternannte Koryphäen als – gelinde ausgedrückt – fehlerhaft erwiesen haben. Aufgrund waghalsiger Extrapolationen wurden wahre Horrorgemälde gemalt.
Der zweite: eine paralysierte Wirtschaft und Gesellschaft bewirkt Kollateralschäden, auch im gesundheitlichen Bereich. Unter anderem Suizide, nicht wahrgenommene Behandlungen aus Angst vor Ansteckung im Spital, usw. Der dritte ist noch gravierender: Es wird hier eine Korrelation behauptet, sogar eine Kausalität. Es wird unterstellt, dass eine Fortsetzung von Wertschöpfung ohne grosse Einschränkungen zwangsläufig schädliche Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit haben müsse. Eine unbewiesene Korrelation. Schlimmer noch: Es wird behauptet, ein zu schnelles Wiederhochfahren der Wirtschaft könnte der Grund für einen neuerlichen Anstieg der Zahl Infizierter und damit von potenziellen Todesfällen sein. Ohne dass ein Beweis für diese Behauptung vorgelegt wird.
Der vierte und letzte Denkfehler besteht darin, dass nur die Schädlichkeit einer Veränderung der beschlossenen Massnahmen des Bundesrats behauptet wird. Welche Schäden – an Wirtschaft und Gesundheit – durch ein zu zögerliches Aufheben der Einschränkungen in Kauf genommen werden, ist kein Thema der Analysen.
In der Bewältigung dieser Pandemie zeigt sich einmal mehr überdeutlich, dass das Postulieren von Absolutheiten, alternativlosen Wahrheiten, unbezweifelbar Richtigem fatale Auswirkungen hat. Umso schneller die Schweiz diesen Irrweg verlässt, desto besser wird sie mit den Folgen dieser Fehlentscheidungen fertigwerden.
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