Es gibt kaum eine Zeitung, deren Geschichte man so gut anhand von Personen erzählen kann wie die NZZ – eigentlich erstaunlich, denn noch immer hängt der «Züri-Ziitig» der Ruf der «alten Tante» an, die höchstens durch Seriosität, keineswegs aber durch Originalität von sich reden machen dürfe.
Aber ausgerechnet die 1780 gegründete Zeitung erweist sich bei genauerem Hinschauen bis heute als Biotop mit farbigen und zum Teil exzentrischen Figuren des Schweizer Journalismus. Das kann man auch dem soeben erschienenen kritischen Porträt der NZZ aus der Feder des langjährigen Auslandredaktors und -Korrespondenten Friedemann Bartu entnehmen («Umbruch», Orell Füssli). Es liest sich, gespickt mit unzähligen Geschichten und Anekdoten, höchst vergnüglich – vergnüglicher als mancher NZZ-Artikel.
Zum Beispiel der legendäre Chefredaktor Willy Bretscher, der in diesem auf akademische Weihen so erpichten Blatt seine Karriere auf dem Redaktionssekretariat begann, es als Nichtakademiker zum Berliner Korrespondenten und 1933 zum Chefredaktor schaffte, der die NZZ zu einer veritablen Bastion gegen den Ungeist des Nationalsozialismus formte. Oder sein Nachfolger, der St.Galler Fred Luchsinger, der von 1968 bis 1984 den Kampf gegen den – diesmal roten – Totalitarismus weiterführte.
Fred Bartus Buch widmet sich allerdings hauptsächlich der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit des Blattes. Als Ökonom durchleuchtet er nicht nur die redaktionelle Leistung, sondern auch die unternehmerischen Entscheide, die oft nicht über jeden Zweifel erhaben waren. Da irrlichterten McKinsey- und andere Berater durch die Teppichetagen, und einer von ihnen – der Österreicher Veit Dengler – errichtete als CEO eine aufwendige Konzernstruktur (inklusive Expansion nach Österreich), die nach seinem Abgang vor allem teure Abbruchkosten verursachte. Mit (Nicht-)Akquisitionen und teuren IT-Eigenentwicklungen tat man sich oft genug schwer an der Falkenstrasse. Und hat womöglich mit einer Konzentration auf hochwertigen Journalismus in gedruckter und digitaler Form dennoch einen Zukunftspfad gefunden, wie ihn ja ein anderes Weltblatt – die New York Times – bereits erfolgreich beschreitet.
An ein besonders auffälliges Exemplar eines NZZ-Redaktors muss ich – selber von 1978 bis 1995 auf der NZZ-Redaktion tätig – hier erinnern. Dr. Hans Schnyder, durch eine Kinderlähmung im Gehen behindert, erschien auch an heissen Sommertagen im dreiteiligen Anzug mit Hut, Stock, Handschuhen und Dünndruckausgabe eines Klassikers auf der Redaktion. Und paffte fast ununterbrochen irgendwelche Stumpen oder Zigarren. Auch auf jener Redaktionskonferenz, auf denen er einen Temperamentsausbruch des Chefredaktors mit der Bemerkung unterbrach, das sei aber die Zeitung von gestern, deren Artikel er eben verriss. Luchsingers legendäre Antwort: «Ist aber ein ganz schlechter Titel!»
Eigentlich ist es heute ja unter Historikern verpönt, Geschichte im Stile Leopold von Rankes, also des 19. Jahrhunderts, zu referieren. Doch ohne deren Namen bliebe die Geschichte nicht nur blass – sie bliebe schlichtweg ungeschrieben. Auch im 21. Jahrhundert.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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