«Ohne Forschung, keine Heilung»: Noch bis Ende Monat läuft die Kampagne von Kinderkrebs Schweiz. Heute überleben rund 80 Prozent der Kinder die Krankheit. Damit die Heilungschancen weiterhin ansteigen, braucht es jedoch die klinische Forschung.
Jeanette Greiner ist Leiterin des Zentrums für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie im Ostschweizer Kinderspital St.Gallen und erklärt, warum noch immer 60 Prozent der Kosten durch Spenden finanziert werden.
Vier von fünf Kindern überleben eine Krebskrankheit. Dennoch stirbt jede Woche ein Kind daran. Die Kampagne von Kinderkrebs Schweiz hat die Klinische Forschung zum Thema. Warum ist so wichtig?
Jeanette Greiner: Die Behandlung von Krebs bei Kindern und Jugendlichen ist eine wahre Erfolgsgeschichte: Vor nur wenigen Jahrzehnten hat kein Kind seine Krebserkrankung überlebt, heute sind es 75 bis 80 Prozent! Dieser enorme Fortschritt in den Behandlungsmöglichkeiten war nur dadurch möglich, dass die Behandlungen in allen kinderonkologischen Zentren konsequent nach einheitlichen Therapiekonzepten erfolgen, welche spezifische Fragenstellungen prüfen. Der Therapieverlauf wird exakt dokumentiert und regelmässig ausgewertet, die gefundenen Resultate werden in die nachfolgenden Therapieempfehlungen aufgenommen und führen dadurch kontinuierlich zu immer besseren und immer gezielteren Therapiemöglichkeiten. Da der Behandlungsstandard mit wissenschaftlichen Fragestellungen verknüpft ist, spricht man von Therapieoptimierungsstudien.
Auch wenn die Heilungschancen gut stehen, gibt es Spätfolgen. Wie kann hier die Forschung helfen?
Jeanette Greiner: Genau auch über den Weg der Therapieoptimierungsstudien. Denn deren Zielsetzung kann man auf folgenden kurzen Nenner bringen: So viel Therapieintensität wie nötig, aber so wenig wie möglich.
Das heisst konkret?
Jeanette Greiner: Durch die konsequente Weiterentwicklung von Therapieoptimierungsstudien, zu denen in aller Regel auch Begleitprojekte aus der Grundlagenforschung gehören, sind wir heute immer besser in der Lage, innerhalb einer Diagnose unterschiedliche Risikogruppen zu definieren und damit besser erkennen zu können, welche Patienten ein intensivere und welche eine weniger intensive Therapie brauchen. Mit reduzierter Therapieintensität reduzieren sich auch die Spätfolgen. Bevor aber eine Therapiereduktion sicher erfolgen kann, muss die dafür geeignete Patientengruppe klar definiert sein. Dies wiederum lässt sich nur durch eine entsprechende Fragestellung im Rahmen klinischer Studien herausfinden.
Auch neue Medikamente können die Spätfolgen reduzieren.
Jeanette Greiner: Genau. Diese sind nicht den klassischen Cytostatika zugeordnet, sondern werden gezielt gegen bestimmte Veränderungen in der Tumorzelle eingesetzt. Auch sie haben ein nicht unerhebliches Nebenwirkungsprofil, das sich aber eher kurzfristig und nicht wie bei der Chemotherapie mit verschiedenen Cytostatika erst spät und meist erst nach Abschluss der Chemotherapie zu zeigen scheint. Und auch hier: Der Einsatz neuartiger Krebsmedikamente kann und darf ausschliesslich im Rahmen von kontrollierten Studien erfolgen.
Wie ist die Klinische Forschung organisiert?
Jeanette Greiner: In der Kinderonkologie ist klinische Forschung immer in grossen Netzwerken organisiert. Da Krebs bei Kindern – glücklicherweise – vergleichsweise selten ist und auch grössere kinderonkologische Zentren nicht auf die für eine vernünftige wissenschaftliche Auswertung erforderliche Anzahl Patienten mit einer bestimmten Tumordiagnose kommen, haben sich die Kinderonkologen von jeher zu internationalen Netzwerken zusammengeschlossen. Innerhalb dieser Netzwerke werden die Kinder in allen kinderonkologischen Zentren in jedem Land nach denselben Konzepten behandelt, welche den aktuellen therapeutischen Goldstandard darstellen.
Sie sind als Ärztin tagtäglich mit diesen Themen in Berührung. Wie hat sich Ihre Arbeit verändert?
Jeanette Greiner: Oberstes Gebot ist es, jedes Kind mit einer Krebsdiagnose im Rahmen einer internationalen Therapieoptimierungsstudie behandeln zu können. Denn damit ist die bestmögliche Behandlungsqualität wie auch der vernetzte Austausch unter den Fachexperten gewährleistet. Dies war jahrzehntelang für jede Tumorentität selbstverständlich und mit akzeptablem Aufwand möglich. In den letzten Jahren sind allerdings die regulatorischen und behördlichen Auflagen zur Eröffnung und Durchführung einer klinischen Studie exorbitant gestiegen, so dass inzwischen für viele Tumore des Kindes- und Jugendalters keine Therapieoptimierungsstudien mit gezielten Fragestellungen mehr eröffnet werden können. Vielmehr müssen die Patienten für einige Tumorarten nach den zwar bewährten, aber inzwischen schon in die Jahre geratenen Therapiekonzepten behandelt und im Rahmen eines Registers dokumentiert werden.
Worin liegt der Unterschied zwischen Register und einer Studie?
Jeanette Greiner: Ein Register ist regulatorisch weniger aufwändig zu führen als eine Studie, kann aber den Therapieverlauf nur dokumentieren und keine wissenschaftlichen Fragen prüfen. Fortschritte können aber nur erzielt werden, indem tumorspezifische Fragestellungen geprüft und bewertet werden und in die Verbesserung der therapeutischen Möglichkeiten einfliessen. Und dies wiederum kann nur im Rahmen von klinischen Studien geschehen, die kaum mehr oder nur unter grösstem logistischen und finanziellen Aufwand erstellt und durchgeführt werden können – ein veritabler Teufelskreis, der den Fortschritt in der Kinderonkologie nicht nur verlangsamt, sondern sogar unterläuft.
Was sind die Gründe dafür?
Jeanette Greiner: Einerseits verzögern und verteuern die regulatorischen und behördlichen Auflagen die Eröffnung und Durchführung einer klinischen Studie auf inakzeptable Weise. Doch damit nicht genug. Jedes kinderonkologische Zentrum, das an den Therapiestudien teilnehmen will, muss seinerseits eine organisatorische und personelle Struktur vorhalten, um die Auflagen erfüllen zu können und den dadurch auch immer ausufernder werdenden Vorgaben, welchen als Folge der regulatorischen Zwänge auch die Studien selber verpflichtet sind, gerecht zu werden. Das bedeutet einen immer extensiveren Dokumentationsaufwand, der sich nicht von selber erledigt, sondern personelle Ressourcen braucht. Dies wiederum wird kontrolliert und überwacht mit mehreren Monitorings im Jahr und regelmässigen Audits der Zentren. Auch dafür braucht es Ressourcen, seitens der Zentren, aber auch seitens der Monitore und Auditoren.
Welche Rolle spielt die Pharmaindustrie dabei?
Jeanette Greiner: Das ganz grosse Plus der Kinderonkologie war immer, unsere klinischen Studien nahezu unabhängig von den Interessen der Pharmaindustrie durchführen zu können. Auf diese Weise war eine von finanziellen Interessen unabhängige Ausrichtung der wissenschaftlichen Fragestellung gewährleistet. Dies hat – nicht unwichtig – auch beinhaltet, herauszufinden, dass ein Therapieelement nicht den erwarteten Erfolg brachte oder inakzeptable Nebenwirkungen aufgetreten sind. Pharmaunabhängige Forschung ist heute praktisch nicht mehr möglich oder dann zu einem finanziellen Aufwand, den wir auch als internationale kinderonkologische community nicht stemmen können.
Pharmagetriebene Forschung ist also grundsätzlich schlecht?
Jeanette Greiner: Nein. Aber sie gibt eine Richtung vor und vernachlässigt dabei andere, möglicherweise viel weniger spektakuläre, weniger teure, aber auch wirksame Therapiemöglichkeiten. Mit denen sich allerdings nicht das grosse Geld verdienen lässt. Und sie baucht den Erfolg, um ein neues Medikament vermarkten zu können. Aus diesem Grund sind wir als Kinderonkologen auch zusehends häufiger mit der Tatsache konfrontiert, dass alte, bestens bewährte Medikamente, die noch immer zum Goldstandard unserer Therapie gehören, mangels Rendite vom Markt genommen werden und den krebskranken Kindern nicht mehr zur Verfügung stehen.
Woran stösst sich die Pharmaindustrie?
Jeanette Greiner: Nicht jede Forschungsfrage führt direkt zum Erfolg. Dies wiederum ist alles andere als schlecht, es ist sogar erwünscht, denn viele Fortschritte werden über unerwartete Ergebnisse gemacht, die schliesslich eine andere, vielleicht bessere Richtung aufzeigen. Das hingegen ist in der Pharma-Branche nicht vorgesehen. Erfolge werden gross vermarktet, scheinbare Misserfolge – es ist enorm wichtig zu erkennen, wo eine Spur nicht weiter führt – verschwinden in den Schubladen und gelangen nie an die Öffentlichkeit.
Warum ist die Kinderonkologie dennoch auf die Pharmaindustrie angewiesen?
Jeanette Greiner: Um auch den Kindern und Jugendlichen die vielen neuartigen Tumormedikamente gezielt anbieten zu können. Wie bereits erwähnt, muss dies aber zwingend im Rahmen einer kontrollierten klinischen Studie erfolgen. Alles andere würde einem unkontrollierten Wildwuchs ohne wissenschaftliches Fundament gleichkommen. Und zu einer krassen Zweiklassenmedizin führen, denn nicht alle Familien könnten sich die teuren Medikamente leisten. Solche Studien werden aber von der Pharmaindustrie nicht unterstützt, das zu prüfende neue Medikament wird für die wissenschaftliche Fragestellung nicht zur Verfügung gestellt.
Haben Sie ein Beispiel?
Jeanette Greiner: Genau dies ist aktuell mit der wichtigsten Therapiestudie in der Kinderonkologie der Fall, der neuen Studie für die akute lymphatische Leukämie, in der zwei solcher neuartigen Medikamente im Vergleich zur Standardtherapie geprüft werden. Die Medikamente werden von der Herstellerfirma nicht zur Verfügung gestellt, was für die Kinderonkologie allein in der Schweiz zu Mehrkosten im hohen fünfstelligen Bereich führen wird. Und dies nur für eine Tumorart. Vom gleichen Problem sind diverse andere Tumore betroffen, die wahren Mehrkosten lassen sich dementsprechend kaum beziffern.
Wer übernimmt die Kosten?
Jeanette Greiner: Die Zusatzkosten müssen von den Spitälern gedeckt werden. Oder sie müssen aus anderen finanziellen Quellen bezahlt werden, denn die Krankenkassen sind nicht verpflichtet, so ein Medikament, das ja noch nicht zugelassen ist für Kinder, zu übernehmen. Aber die Kinder brauchen es, und es wäre schlicht unethisch, ihnen ein verfügbares Medikament aus Kostengründen verweigern zu müssen.
Woher also soll dieses Geld konkret kommen?
Jeanette Greiner: Aus Spenden und sogenannten Drittmitteln, für deren Eintreibung wir selber verantwortlich sind. Die Schweizerische Pädiatrische Onkologiegruppe, welche die Koordination der klinischen Studien in der Kinderonkologie in der Schweiz übernimmt, finanziert sich zu 60 Prozent aus Spendengeldern, die sie immer wieder aufs Neue suchen muss und damit keine Planungssicherheit hat.
Können die Krankenkassen nicht stärker in die Pflicht genommen werden?
Jeanette Greiner: Die Krankenkassen machen uns das Leben unnötig schwer. Sie führen eine Vielzahl unserer seit Jahrzehnten verwendeten Medikamente nicht auf der Liste der anerkannten Medikamente, weil es praktisch keine Zulassungsstudien für Kinder gibt.
Warum nicht?
Jeanette Greiner: Weil es sich nicht lohnt, den grossen Aufwand einer Zulassung für den vernachlässigbaren Markt der Kinder zu betreiben. Das führt zu systematischen Rückfragen der Krankenkassen praktisch bei jedem Patienten, die einen enormen administrativen Aufwand auslösen, den die Kinderonkologen zu bewältigen haben und der – genau wie der regulatorische Aufwand im Rahmen einer Studie – direkt der Patientenzeit abgeht.
Was kann jeder Einzelne tun, damit die Thematik angegangen und die Probleme in Angriff genommen werden?
Jeanette Greiner: Gar nicht so einfach, diese Frage. Denn als Kinderonkologen sehen wir sehr klar, wo die Hindernisse liegen, haben aber weder die Lobby noch die Ressourcen dazu, dies einer breiten Öffentlichkeit und den politischen Entscheidungsträgern zugänglich zu machen – geschweige denn, zu ändern. Unsere Erfahrung ist, dass die allermeisten Leute, Gesundheitsexperten eingeschlossen, keine Vorstellung davon haben, was Kinderonkologie bedeutet. Dementsprechend muss als erstes darüber geredet werden. Dies hat sich Kinderkrebs Schweiz in verdankenswerter Weise zur Aufgabe gemacht! Und kann durch jede Publikation zum Thema verstärkt werden.
Hintergrund
Am Zentrum für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie des Ostschweizer Kinderspitals werden sämtliche Tumore des Kindes- und Jugendalters nach den aktuellen internationalen Therapie- und Studienstandards behandelt. Mit Ausnahme der allogenen Stammzelltransplantation werden alle therapeutischen Modalitäten angeboten, je nach Erfordernis in Kooperation mit spezialisierten Zentren und Fachexperten. Wie alle anderen kinderonkologischen Zentren werden beispielsweise am Kinderspital keine Bestrahlungen durchgeführt, sondern es wird mit dem Paul Scherrer-Institut in Villigen zusammengearbeitet – die einzige Institution, welche in der Schweiz die Bestrahlung mit den schonenderen Protonen anbietet. Am häufigsten sind die Krebserkrankungen aus der Gruppe der Leukämien und Lymphome, gefolgt von den Hirntumoren, von denen es eine Vielzahl von verschiedenen Entitäten gibt, danach kinderspezifische Tumore wie Neuroblastom oder Nierentumore, Weichteil- und Knochentumore sowie eine Reihe seltener Tumore, die mehrheitlich nur bei Kindern und Jugendlichen, nicht aber bei Erwachsenen auftreten. Die Therapie der häufigsten Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter, die akute lymphatische Leukämie, dauert insgesamt zwei Jahre, davon etwa sechs bis acht Monate Intensivtherapie mit abwechselnd stationären und ambulanten Therapiephasen, gefolgt von einer etwa eineinhalbjährigen milden Erhaltungstherapie, die ambulant durchgeführt wird.
Manuela Bruhin (*1984) aus Waldkirch ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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