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Gastbeitrag

Die Casa Pantrova: Das Haus der «Roten Zora»

Meine Rückkehr in das Tessiner Haus der Jugendbuchautoren Lisa Tetzner und Kurt Held - das Haus, wo vor 80 Jahren «Die rote Zora» entstand - wurde zu einer Auszeit von der Unbill der Gegenwart.

Nicolas Lindt am 30. Juli 2021

Sie sieht noch immer so aus wie das letzte Mal, die Casa Pantrova, als habe sie auf uns gewartet, denn ich hatte ihr doch versprochen im Gästebuch: «…bis in spätestens 7 Jahren wieder!» Nun sind 17 Jahre verstrichen, ehe ich mein Versprechen einlöste. Aber ich bin zurückgekommen, in das alte Haus im Tessin, oberhalb von Lugano, das noch immer allein für sich am Rande des Dorfes liegt – weder von Bauprojekten noch von Viren bedroht, unverändert der üppige Garten, unverändert die Räumlichkeiten mit ihrer Geschichte. Nur das Rosarot der Fassade ist am Verbleichen, als ob sich das Haus aus der gegenwärtig so schwer erträglichen Welt langsam, aber sicher zurückziehen wollte.

Die Casa Pantrova war das Zuhause des Schriftstellerpaares Kurt Kläber und Lisa Tetzner. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, als sie sich kennenlernten, reiste sie als professionelle Märchenerzählerin durch Deutschland, von Ort zu Ort, von Schule zu Schule, während er als Kommunist Romane für das Proletariat verfasste. Mit ihrer Gabe erlangte Lisa Tetzner eine solche Bekanntheit, dass sie vom deutschen Rundfunk für eine regelmässige Märchenstunde verpflichtet wurde. Doch nach der Machtergreifung der Nazis entschied sich das junge Paar zur Emigration, und selbst ein Joseph Goebbels konnte Lisa Tetzner nicht davon abhalten, ihren Entschluss in die Tat umzusetzen. Sie wollte keine Märchenerzählerin für die Nazis sein.

In der Schweiz fand das Paar im kleinen Tessiner Dorf eine Bleibe. Auch Lisa Tetzner hatte inzwischen zu schreiben begonnen, doch in Deutschland durften die beiden unerwünschten Autoren nichts mehr veröffentlichen, und in der Schweiz erreichte der Schriftstellerverband durch negative Gutachten, dass viele deutsche Autoren in ihrem Schweizer Exil ebenfalls nichts publizieren konnten und sogar von der Ausweisung bedroht waren. Der Verband wollte damit verhindern, dass die Schweizer Autoren neben ihren neuen deutschen Kollegen den Kürzeren zogen.

Zeitweise waren Kurt Kläber und Lisa Tetzner deshalb so knapp bei Kasse, dass sie sogar versuchten, selber Gemüse zu züchten, um als Selbstversorger zu überleben. Das dafür benötigte Grundstück am Dorfrand hatten sie dank einer kleinen Erbschaft erwerben können. Weil aber auch dies auf die Dauer nicht reichte, mussten sie sich etwas einfallen lassen. Und die Lücke im Publikationsverbot waren Jugendbücher.

Kurt Kläber verfasste deshalb zusammen mit seiner Frau einen Roman für Jugendliche. Er war auf das Schicksal von Kindern armer Tessiner Eltern gestossen, die im 19. Jahrhundert nach Mailand verkauft wurden, wo sie als Kaminfegergehilfen die engen Kamine reinigen mussten. Das Buch hiess «Die schwarzen Brüder» und erschien – bereits mitten im Krieg – unter dem Namen von Lisa Tetzner im Schweizer Sauerländer-Verlag. Kurt Kläber als Autor des Buches zu nennen, wäre für den Verlag wegen der kommunistischen Vergangenheit des Deutschen zu problematisch gewesen.

Doch Kläber hatte zu seiner Begabung gefunden und schrieb innert weniger Monate einen zweiten grossen Jugendroman über die Abenteuer einer Kinderbande an der dalmatischen Küste. Er und Lisa Tetzner hatten die Bande während eines Aufenthalts in Kroatien kennengelernt, und besonders beeindruckt hatte sie deren Anführerin, ein Mädchen mit roten Haaren. «Die rote Zora» war geboren. Mit diesem Werk begründete Kläber – der sich jetzt Kurt Held nannte – zunächst in der Schweiz und nach dem Krieg auch in Deutschland seinen Erfolg als Jugendbuchautor.

Die Existenz des Paares war nun gesichert, sie entschieden sich, in ihrem Tessiner Dorf zu bleiben und sie erhielten den Schweizer Pass. Mit ihren Jugendbüchern erreichten sie hohe Auflagezahlen und Übersetzungen in viele Sprachen. Lisa Tetzner und Kurt Kläber alias Held waren zuletzt so erfolgreich, dass sie sich allein aus ihrem verdienten Geld ein Haus bauen konnten. Sie errichteten es auf ihrem eigenen Grundstück am Dorfrand und öffneten es vom ersten Tag an für ihre zahlreichen Freunde, um ihr Glück mit ihnen zu teilen.

In nächster Nähe des Hauses gab es schon damals ein Grotto mit dem eigentümlichen Namen «Pan perdu», was «verlorenes Brot» bedeutet. In Anlehnung an den Namen des Grottos und aus Dankbarkeit für die glückliche Wende des Schicksals nannte das Schriftstellerpaar sein neues Zuhause «Casa Pantrova». Sie hatten das Brot, das sie zum Leben brauchten, gefunden.

Doch sie konnten es nicht lange geniessen. 1959, nur wenige Jahre nach ihrem Einzug ins Haus starb Kurt Kläber, erst 62jährig, und Lisa Tetzner, die ohne ihn nicht mehr leben mochte, folgte ihm bald danach.

Noch zu Lebzeiten hat das kinderlos gebliebene Paar bestimmt, dass die Casa Pantrova dereinst Autorinnen und Autoren für Schreibaufenthalte zur Verfügung stehen soll. Und so kam es, dass ich vor vielen Jahren das erstemal dieses Haus betrat, ehrfurchtsvoll durch die Räume schritt und zuletzt, im oberen Stock, umgeben von einer voluminösen Bibliothek, vor dem Schreibtisch stand, wo Kurt Held seine «Rote Zora» ins eingespannte Papier getippt hatte.

Nun bin ich zum zweiten Mal da, begebe mich zurück in das Erdgeschoss, in den Salon, wo noch immer der kleinere, schlichtere Schreibtisch von Lisa Tetzner steht und wo die acht Bände der «Kinder aus Nr. 67» entstanden sind. Es war Lisa Tetzners bekanntestes Werk über die Kriegszeit und wie sie von Kindern erlebt und erlitten wurde. Ich schaue mich um und sehe wieder die Buchgestelle in Tetzners Zimmer, wo sämtliche Werke der beiden Autoren, sämtliche Neuauflagen und Übersetzungen aufgereiht sind.

Ich erinnere mich sofort wieder: «Giuseppe und Maria», «Der Trommler von Faido», «Was am See geschah», «Die Reise nach Ostende», «Matthias und seine Freunde» und viele andere. Spannende und berührende, gute Geschichten – ich habe sie alle gelesen, ich habe sie meinen Kindern mit Leidenschaft vorgelesen und hoffe, dass auch sie diese Bücher dereinst ihren Kindern ans Herz legen werden.

Aber gleichzeitig weiss ich, wieviele neue Jugendbücher seither den Büchermarkt überflutet haben. Gehaltvoller sind sie nicht – aber moderner. Sie wollen dem Zeitgeist gefallen, sie wollen weltanschaulich korrekt und emanzipiert sein. Die «Rote Zora» damals war nicht korrekt, ein Mädchen als Anführerin einer Bande widersprach dem traditionellen Bild, das brave Mädchen bevorzugte. Die «Rote Zora» war ihrer Zeit voraus, ebenso wie ihre schwedische Schwester «Pippi Langstrumpf» ein paar Jahre später. Kurt Held erfüllte für mich, was ich von Literatur und Jugendliteratur erwarte: Dass sie den Mainstream hinter sich lässt und ihre eigene Haltung, ihre eigene Weltsicht entwickelt.

Doch das Moderne ist zunächst immer stärker, und so wird die öffentliche Präsenz der Werke von Kurt Kläber und Lisa Tetzner ganz allmählich verblassen wie das Rosarot ihrer Hausfassade.

Daran ändern auch all die Gäste nichts, die das Haus seither beherbergt hat. Unzählige Autorinnen und Autoren haben hier wohnen und schreiben dürfen, und sie zeigten sich - wie das Gästebuch zu berichten weiss - dafür dankbar. Doch wieviele von ihnen haben sich mit dem Lebenswerk der beiden Schriftsteller, denen sie ihren Aufenthalt zu verdanken haben, auseinandergesetzt? Wieviele von ihnen haben eines der Bücher auch nur in die Hand genommen?

Es ist ihnen zu verzeihen, wenn sie es nicht getan haben. Jede Autorin, jeder Autor muss für sich selber schauen, und das gilt für uns alle. Wir dürfen uns nicht verlieren im Gestern. Wir sind auf der Welt, um nach vorne zu blicken, und wir müssen versuchen, die Wahrheit in unserer Sprache, in der Sprache von heute zu sagen. Das Heute hat keine Musse für das Vergangene. Und seit dem März 2020 ist die Gegenwart noch viel erdrückender, dominanter geworden. Die Pandemie, auch wenn sie in Wirklichkeit keine ist, fesselt und zwingt uns, die Augen zu öffnen und hinzusehen auf das, was jetzt, in diesem Moment geschieht und den Menschen angetan wird. Kein nostalgischer Blick zurück. Keine Melancholie, kein sentimentales Verweilen in alten Geschichten – selbst wenn sie uns heute, gerade heute vieles zu sagen hätten.

Es tut weh, all die Werke von Kurt Kläber und Lisa Tetzner zu sehen und zu wissen, mit wieviel Herzblut, Weisheit, Zähigkeit und Geduld sie erarbeitet wurden. Es tut weh, an die Menschenliebe der beiden Autoren zu denken – und wie sehr die Welt sie gebrauchen könnte.

Doch die Bücher sind zum Verstummen verdammt. Das Lebenswerk von Kurt Kläber und Lisa Tetzner dämmert in den Regalen einen Dornröschenschlaf, aus dem es nie mehr erwachen wird. Und was für die Bücher gilt, die sie selber geschrieben haben, gilt für die 2’000 Bände in der Bibliothek im 1. Stock noch viel mehr. Dort oben beherbergt die Casa Pantrova jene noch viel grössere Schatzkammer, die mich schon bei meinem ersten Aufenthalt überwältigt hat. Wieviele geschliffene Steine, wieviele Rubine und Bergkristalle dort oben zu finden und wiederzufinden wären, daran darf ich nicht denken. Allein die Märchenbücher aus aller Welt, die Lisa Tetzner gesammelt hat, füllen ganze Gestelle. Ich gehe an ihnen vorbei, mein Blick streift über die Titel der Bände, und ich schliesse die Augen, weil es so traurig ist, diesen ganzen Reichtum zu sehen und nicht wiedererwecken zu können.

So geht es mir mit jeder Bibliothek, auf die ich in alten Häusern, in Brockenhäusern und Antiquariaten stosse. Ich möchte sie alle retten, die Bücher, die es wert sind, gerettet zu werden. Ich möchte sie wachküssen und zu ewigem Leben erwecken. Doch ich tue es nicht. Ich könnte es nicht, angesichts ihrer Fülle, und ich darf es nicht. Auch ich muss für mich schauen, für das, was ich selber zu schreiben habe. Auch ich muss für das Heute da sein, nicht für das Gestern. Gerade jetzt.

Nur manchmal, da brauche ich eine Pause. Da möchte ich innehalten. Ich habe während der Woche in der Casa Pantrova nicht viel gearbeitet. Ich erholte mich. Ich erholte mich in der Vergangenheit. Wir wohnten in diesem Haus, in welchem immer noch die Geschichten leben, die uns Lisa Tetzner und Kurt Held hinterlassen haben, und sie taten mir gut, die alten, unverändert gebliebenen Räume mit all diesen Büchern, Kommoden, Vitrinen, Geschirren, Gemälden und Kunstgegenständen von gestern. Es war ein Ausflug in eine verblassende Welt. Wenn die Gegenwart, so wie jetzt, zu erdrückend wird, ist die Vergangenheit wie ein Kuraufenthalt.

Während ich mich mit dem Leben der beiden Autoren und ihrem aussergewöhnlichen Haus befasste, vergass ich vorübergehend die Schrecken, die uns – zurück in der Gegenwart – wieder erwarten würden. Und ich beschloss, mir die Zeit zu nehmen, wenn ich nach Hause komme, um der Casa Pantrova ein Denkmal zu setzen und dir, liebe Leserin, lieber Leser die Empfehlung mit auf den Weg zu geben, es mir gleichzutun und gelegentlich, wenn es notwendig wird, mitten in der bedrohlich gewordenen Gegenwart innezuhalten und einzutauchen in den Trost der Vergangenheit.

Das kann ein Ort, eine Landschaft sein, die dem Zeitgeist entrückt ist und uns an früher, an damals erinnert. Das kann die Wiederbegegnung mit einem Menschen sein, den wir einmal gekannt und geliebt haben. Und manchmal genügt schon ein altes Buch, eines, das uns entführt in andere Zeiten, andere Welten; eines, das uns erlöst, und wenn es nur ein paar Stunden sind, aus dem Gefangensein in der kalten Moderne; eines, das uns ein wenig entlastet von der Notwendigkeit, immer kritisch, erwachsen und vernünftig zu sein.

Ja, manchmal hilft schon ein altes Buch. Eines, welches uns darin bestärkt, dass wir das Brot nicht verloren, sondern gefunden haben.

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Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. Neben dem Schreiben gestaltet er freie Trauungen und Abdankungen. Der Schriftsteller lebt mit seiner Familie in Wald und Segnas.

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