Simonetta Sommaruga tritt zurück - und aus dem linksliberalen Medienmainstream ergiessen sich umgehend Elogen über sie.
So begrüsste der Tagesanzeiger seiner Leser im Morgen-Newsletter: "Sommarugas Entscheidung berührt viele. Natürlich, sie ist privilegiert, und alle zeigen Verständnis: Aber es braucht bestimmt viel Mut, diesen verantwortungsvollen Posten zum wohl ungünstigsten aller Zeitpunkte abzugeben. Erst recht, wenn man dieser Aufgabe alles untergeordnet hat und dies weiterhin getan hätte. Aber es gibt Wichtigeres. Das zu erkennen und die Konsequenzen zu ziehen, schaffen nur die Wenigsten."
Die Zeitung vertraute wohl darauf, dass sich ihre Leser beim Lesen noch im Halbschlaf befanden und umso anfälliger für Suggestionen sind.
Natürlich erinnert einem jeder Schicksalsschlag immer an die Endlichkeit des Daseins: memento mori. Aber auch bei einem Schicksalsschlag gilt wie bei allen anderen Dingen: Schicksalsschlag ist nicht gleich Schicksalsschlag.
Je weniger Zeit ein Mensch noch mit einem geliebten Menschen verbringen kann, desto wertvoller wird diese Zeit. Und desto mehr verblasst im Vergleich dazu alles andere.
Es braucht keine übernatürlichen Fähigkeiten, alles stehen und liegen zu lassen, um zu einem geliebten Menschen in Not zu eilen - sondern es ist eine zutiefst menschliche Reaktion: Jeder Mensch, der nur einigermassen dazu imstande ist, würde so handeln.
Dennoch erblödet sich der Tagesanzeiger nicht, zu schreiben: "Das zu erkennen und die Konsequenzen zu ziehen, schaffen nur die Wenigsten."
Sicherlich: Um den Beruf eines Bundesrats erfolgreich auszuüben, bedarf es gewisser Fähigkeiten. Aber diese Tätigkeit qualifiziert jemanden noch lange nicht als Person mit übermenschlichen Wesenszügen.
Wenn eine Bundesrätin in ihrem Privatleben auf ihr Bauchgefühl hört - dann hört sie eben auf ihr Bauchgefühl. So wie alle anderen Menschen auch. Und bloss weil es das Bauchgefühl einer Bundesrätin ist, wird es dadurch noch nicht zu etwas Sublimeren.
Die meisten Menschen schaffen es, in einer Situation, in der es einem geliebten Menschen schlecht geht, die Prioritäten richtig zu setzen. Dass es auch eine Bundesrätin kann, überrascht da eigentlich nicht. Vor allem, da sie ihren Job von einem Tag auf den anderen kündigen kann, ohne sich um ihr materielles Wohlergehen Sorgen machen zu müssen.
Und zu solchem Handeln sollen nur die Wenigsten imstande sein? Die Redaktorin, die solch unüberlegte Äusserungen von sich gibt, beliebt wohl zu scherzen!
Die Rücktrittsentscheidung erforderte auch keinen Mut, wie die Journalistin meinte: Je mehr die schlichte Notwendigkeit gebietet, desto weniger Mut erfordert es, ihr Folge zu leisten. Ein oder mehrere Jahre mit einem geliebten Menschen verbringen oder stattdessen im Büro sitzen - diese Entscheidung zu fällen verlangt nicht sonderlich viel Mut. Beziehungsweise: Es würde vielmehr Mut erfordern, im Büro sitzen zu bleiben - und damit das Risiko einzugehen, sich dafür später jahrelang Selbstvorwürfe machen zu müssen.
Das Handeln von Simonetta Sommaruga war nicht heldenhaft, war nicht mutig - es war nur menschlich, allzu menschlich.
Doch weiter geht es im Ton: Der Entscheid von Bundesrätin Sommaruga verdiene Respekt, meinte TA-Bundeshausredaktor Fabian Renz. Nun, der Entscheid ist sicherlich zu respektieren. Was denn sonst? Schliesslich ist auch eine Bundesrätin ein Mensch aus Fleisch und Blut mit menschlichen Empfindungen. Aber warum soll es einem Respekt abnötigen, dass auch ein Mensch mit diesem Beruf seinen menschlichen Regungen folgt?
Simonetta Sommaruga bringe "das Land durch ihren unerwarteten Rücktritt in eine schwierige Lage" - so tönt es weiter. Wäre es wirklich so - dann würden wohl kaum derart gedankenlos Elogen auf ihren scheinbaren Mut versprüht.
Man stelle sich einmal vor: Massierte feindliche Truppen stehen an der Grenze. Am Tag vor dem Angriff gibt der Oberkommandierende das Kommando aus familiären Gründen ab. Würde er wohl auch für seinen Mut gelobt? Seinen Mut, das Schicksal seiner Familie höher zu gewichten als dasjenige des Landes? Wohl kaum! Was zeigt: Wirklich schwerwiegende Konsequenzen hat der Rücktritt von Bundesrätin Sommaruga nicht.
In einem Rückblick auf ihre Amtszeit wird ihr "grosse Beharrlichkeit" attestiert, werden "die Massnahmen, die sie aufgegleist hat", aufgezählt und ihre Sachlichkeit gelobt.
Ganz anders tönte es aus derselben Ecke noch vor nicht allzu langer Zeit anlässlich des Rücktritts von Bundesrat Ueli Maurer: Maurer habe "mäandriert" zwischen Staatsmann und Oppositionellem. "Provokationen", "Querschläge", "Verletzungen des Kollegialitätsprinzips" wurden ihm angekreidet, "wandelbar, unberechenbar und wendig" sei er gewesen, meinte der Tages-Anzeiger. Und SRF benutzte fast dieselben Worte: Er sei eine "Wundertüte" gewesen, "unberechenbar, ungewöhnlich, unfassbar."
Das Hauptinteresse der Medien galt jedoch - wenig überraschend - seinem Verhältnis zu den Medien. Als wäre daran nur eine Seite beteiligt - und sei die "Antipathie", die ihm der Leiter der TA-Bundeshausredaktion, Fabian Renz, attestiert, nur ein einseitiges Phänomen gewesen. Dass Viktor Giacobbo ihn jahrelang persiflierte: selbstverständlich nur Ausdruck gutmütiger Zuneigung, keine Spur von Spott. Man stelle sich einmal den Aufschrei vor, hätte er sich auf diese Weise über Simonetta Sommaruga lustig gemacht.
Und der Leistungsausweis von Ueli Maurer? Einerseits die Niederlage beim Gripen-Kauf und "im Finanzdepartement wiederum wurden die meisten massgeblichen Reformen von Maurers Vorgängerin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) aufgegleist." So meinte Fabian Renz. Also nichts - keine Erfolge und schon gar nichts aufgegleist.
Aber bei Simonetta Sommaruga werden auch noch die gewöhnlichsten menschlichen Regungen zu einem Ausdruck aussergewöhnlicher Erhabenheit erklärt: Heilige Simonetta!
Ihr und ihrem Mann sind selbstverständlich Glück und gute Gesundheit zu wünschen.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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