Wir erinnern uns alle: Während der vergangenen zwei Jahre sind die Intensivstationen in der Schweiz angeblich an ihre Belastungsgrenzen gekommen. Inzwischen haben sie ein ganz anderes Problem: Eine akute Unterbelegung, wenn man es wirtschaftlich betrachtet. Und war es je anders?
Seit Covid-19 Teil unseres Alltags ist, wurde uns von den vereinigten Medien des Landes fast tagtäglich versichert, dass die Gesundheitsversorgung in der Schweiz gefährdet ist. Denn die ohnehin knappen Betten in den Intensivstationen (die statistisch laufend weiter verknappt wurden), seien aufgrund des Virus bedrohlich stark belegt. Als die Impfkampagne des Bundes richtig anlief, wurde die Erzählung rasch weitergesponnen: Es handle sich um eine «Pandemie der Ungeimpften», die hohe Auslastung sei den «Impfverweigerern» zuzuschreiben.
Aufgrund der Unfähigkeit unseres Staates, flächendeckende und verlässliche Statistiken zu erheben, war das stets eine unüberprüfbare Behauptung. Leute von der «Front» im Gesundheitswesen gaben bilateral gerne eine leicht andere Einschätzung. Sicher ist aber: Die Belegung der Intensivstationen ist aus den Schlagzeilen verschwunden.
Mit gutem Grund. Denn die Zahl gibt heute noch weniger her als früher. Selbst in den Hochphasen der «Wellen», die verkündet wurde, waren die Intensivstationen nie in einem bedrohlichen Ausmass belegt. Die verkündete Gefahr bezog sich stets auf mögliche Szenarien, die eintreten könnten. Deren Absender war meist die wissenschaftliche Task Force, deren Trefferquote bei Vorhersagen miserabler war als die eines Hobbymeteorologen.
Aber schauen wir doch, wie es aktuell aussieht. Per 12. April 2022 weist die entsprechende Webseite des Bundes eine Belegung der Intensivstationen von 71,3 Prozent aus. Das zu einem Zeitpunkt, zu dem sämtliche Schutzmassnahmen aufgehoben sind und die hoch ansteckende Omikronvariante so gut wie jeden erwischen müsste, wenn der propagierte Ansteckungsgrad korrekt ist. 10,8 Prozent der Patienten auf den Intensivstationen werden unter «Covid 19» geführt, was einfach bedeutet, dass sie positiv getestet wurden, das Virus muss keineswegs der Grund der Hospitalisierung sein.
Es wird schnell klar, warum weder das Bundesamt für Gesundheit noch die Medien mit diesen Zahlen hausieren gehen. Leicht über 70 Prozent: Das ist nicht nur kein Grund zur Besorgnis, das ist unterirdisch. Intensivstationen werden nicht für den «worst case» gegen oben geschaffen, sondern für eine durchschnittliche Belegung. Deren Wert müsste gegen 80 Prozent gehen, um wirtschaftlich zu sein. Dümpelt man lange bei einer Zahl wie aktuell herum, kommt eher die Frage auf: Sollen wir Betten abbauen? Denn diese sind zu teuer, um auf Vorrat unterhalten zu werden, weil sie nur Sinn machen, wenn auch das entsprechend nötige Personal vorhanden ist.
Nun könnte man natürlich sagen: Gut, das mag derzeit so sein, weil Omikron eben weniger dramatische Auswirkungen hat, aber früher war es bitter nötig, die Intensivstationen zu entlasten.
War es das? Diese Grafik des Bundes zeigt die Entwicklung von Juni 2020 bis heute:
In ganz vereinzelten und sehr kurzen Phasen stieg die Belegungskurve über 80 Prozent, in aller Regel blieb sie darunter, dramatische Ausschläge nach oben gab es sowieso nicht. Die Zahl der freien Betten (hellgrau) war immer beruhigend hoch, und Covid-19-Patienten (dunkelgrau), selbst wenn man diese Kategorie grosszügig im Sinn des BAG definiert, waren stets in der eklatanten Minderheit. Gleichzeitig wurde uns vorgegaukelt, diese Patientengruppe prügle sich um freie Intensivplätze.
Grafiken dieser Art waren stets frei zugänglich, nur haben sie kaum jemanden interessiert. Laut und panisch in die Kamera schreiende Direktoren von Kleinspitälern, bei denen 5 von 6 Intensivplätze belegt waren (in 15 Minuten Entfernung vom nächsten Spital) erhielten die ganze Aufmerksamkeit der Redaktionen. Wen interessieren denn da nackte Zahlen, die das Gegenteil belegen, wenn man einen knackigen Videoclip hat?
Die Hausärzte in der Schweiz haben derzeit übrigens mit einem ganz anderen Phänomen zu kämpfen. Einer Sache, die sie hinter vorgehaltener Hand als «BAG-Grippe» bezeichnen. Damit ist gemeint: Vor allem Kinder kommen mit Erkältungssymptomen in die Praxis, die nichts mit Covid-19 zu tun haben. Sie sind einem Immunsystem zu verdanken, das selbst dem harmlosesten Virus hilflos ausgesetzt sind. Zwei Jahre Distanz, Maske und Spielverbot mit den Nachbarn haben dafür gesorgt, dass es heute nicht mehr viel braucht, um vom kleinsten «Käfer» umgeworfen zu werden.
Der Terminus «BAG-Grippe» spricht Bände. Die Praktiker an der Front sehen, was die Schutzmassnahmen bewirkt haben. Offen sprechen wollen sie darüber aber nicht. Und so hustet sich ein schöner Teil unseres Landes aktuell ganz ohne Coronavirus durch den Tag und staunt, woher das kommt – während die Intensivstationen an der Grenze zur Unwirtschaftlichkeit stehen bleiben.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.