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Historisch gesehen war die Schweiz nie Taktgeber

Die Krux mit der schweizerischen Neutralität

Der Krieg in der Ukraine zwingt die Schweiz dazu, sich abermals mit der Neutralität bzw. mit der eigenen Neutralitätspolitik auseinanderzusetzen.

Jérôme Müggler am 02. April 2023

Dazu gehören Fragen, ob und wie man Sanktionen gegen Russland und russische Bürger mittragen solle, wie man mit Export von Kriegsmaterial umgehen oder wie man sich zu Militärbündnissen stellen möchte. Die Diskussionen zu diesen Themen sind anstrengend und tun der Schweiz gleichzeitig gut, weil sie sich mit ihrer Rolle in der internationalen Ordnung auseinandersetzen muss.

Historisch gesehen war die Schweiz nie Taktgeber auf internationalem Parkett – teilweise gewollt, teilweise gegeben. So haben immer Entwicklungen um die Schweiz die Aussenpolitik und letztlich auch die Haltung zur Neutralität stark beeinflusst. Hier zu erwähnen sei, dass die Neutralität kein gottgegebenes Konzept ist, das bereits die alten Eidgenossen für sich in Anspruch nahmen. Man darf gar sagen, dass die Vertreter der Alten Orte – nicht der Schweiz – eher kriegslüsterne Tendenzen hatten und das Söldnerwesen über Jahrhunderte hinweg ein Wirtschaftsfaktor auf dem Gebiet der heutigen Schweiz war. Militärunternehmer häuften durch die fremden Kriege ein grosses Vermögen an. Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts betrugen ihre Gewinne oft ein Mehrfaches der Investitionen. Noch 1809 kämpften Schweizer Regimenter in den Napoleonischen Kriegen auf der spanischen Halbinsel.

Die «moderne» Neutralität, von wir heute sprechen, geht auf den Wiener Kongress von 1815 zurück und erwies sich für die beteiligten Grossmächte als sinnvolle Lösung im Rahmen der umfassenden Neuordnung der Grenzziehungen und politischen Verhältnisse in Europa. Frankreich, Österreich und Preussen hat zuweilen eigenen Ideen für die kleine Schweiz. Im Zweiten Pariser Frieden gaben die Signatarstaaten die Garantie auf Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der Grenzen ab. Die Schweiz verpflichtete sich im Gegenzug, bei zukünftigen Konflikten neutral zu bleiben und wurde so zu einem «Puffer» zwischen den europäischen Grossmächten. Sprich, die Schweiz und ihre Neutralität wurde stark von Dritten um uns herum definiert und ist keine eidgenössische Erfindung.

Die Neutralität wird in der Schweizer Bundesverfassung nur in den Artikeln 173 und 185 erwähnt. Dort steht, dass sowohl die Bundesversammlung wie auch der Bundesrat Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz treffen. Mehr ist im Schweizer Recht nicht definiert. Das Neutralitätsrecht, das in den Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907 kodifiziert wurde, ist Teil des Völkergewohnheitsrechts. Es legt die Rechte und Pflichten eines neutralen Staates fest, was auch für die Schweiz Gültigkeit hat. Auf einen militärischen Einsatz, der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gutgeheissen wurde, ist das Neutralitätsrecht nicht anwendbar. Der Sicherheitsrat wird im Auftrag der Staatengemeinschaft tätig, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen. Daher hindert das Neutralitätsrecht die neutralen Staaten nicht daran, solche Einsätze zu unterstützen.

Als Kleinstaat mit einer international stark vernetzten, abhängigen Volkswirtschaft müssen wir uns zwangsläufig immer wieder mit unserer Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft auseinandersetzen. Entwicklungen wie Kriegen, Handelskonflikten oder Hegemonialansprüchen muss sich die Schweiz stellen und einen für sie sinnvollen Umgang damit finden. Den Kopf in den Sand zu stecken und die Augen zu verschliessen – in der Hoffnung, dass das man vom Ungemach dann schon verschont bleibe – ist keine Option. Es gilt, Stellung zu beziehen und anpassungsfähig zu bleiben. Was von 1939 bis 1945 oder im Kalten Krieg funktioniert hat, mag 2023 nicht mehr die passende Lösung sein. Neutralitätspolitik ist einem Wandel unterworfen, in dem es einen roten Faden braucht. Gleichzeitig soll schweizerische Neutralitätspolitik dazu beitragen, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu sichern. Folglich muss die Schweiz in ihrem eigenen Interesse – auch zugunsten der Sicherheit, der intakten Volkswirtschaft und des Wohlstands – handlungsfähig bleiben. Eine starre, geschweige kodifizierte Definition der Neutralität hilft dabei nicht und wäre verantwortungslos.

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Autor/in
Jérôme Müggler

Jérôme Müggler ist Direktor der Industrie- und Handelskammer Thurgau.

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