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Polit-Mainstream

Die omnipräsente Lust auf Notrecht – Gewaltenteilung, quo vadis?

Wer die aktuellen Forderungen im Politbetrieb ansieht, merkt schnell: Seit Covid ist Notrecht nichts Aussergewöhnliches mehr. Diese naive Sichtweise ist gefährlich, denn sie bedroht die rechtsstaatliche Gewaltenteilung – und Freiheitsrechte.

Artur Terekhov am 29. August 2022

Der US-Patriot-Act, nur anderthalb Monate nach 9/11 beschlossen, gilt für viele nicht ganz zu Unrecht als Anfangspunkt für weitreichende Eingriffe in die Privatsphäre und den Ausbau eines Überwachungsstaates, insbesondere auch in Bezug auf den internationalen Flugverkehr. Zu beachten ist aber, dass – so sehr bei dessen Erlass auch ein aktivistischer Geist der Panik mitgespielt hat – der US-Patriot-Act immerhin auf einem offiziellen Beschluss des Kongresses und damit des US-Parlaments basiert. Ganz im Gegensatz zu den meisten Schweizer Covid-Massnahmen der letzten beiden Jahre.

Während das Covid-19-Gesetz – der Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Kley sprach in der NZZ von einem «inhaltsarmen Blankettgesetz» – des Parlaments nur sehr wenige Regelungen enthielt, waren die meisten wirklichen Grundrechtseingriffe in bundesrätlichen Notverordnungen der besonderen oder ausserordentlichen Lage enthalten sowie – nicht zu vergessen – in weiteren Verordnungen der einzelnen Kantonsregierungen. Eine Verordnung hat es an sich, dass sie unter dem Gesetz steht und dieses konkretisiert. Dies ist der Regelfall. Eine Notverordnung als Ausnahmefall hat es hingegen an sich, dass die – wenn überhaupt vorhandene – gesetzliche Grundlage sehr rudimentär ist (wobei eine Detailabhandlung darüber, welche Verordnungen unmittelbar gestützt auf die Verfassung und welche gestützt auf Art. 6 und 7 Epidemiengesetz erlassen wurden, vorliegend irrelevant ist). Die Begründung dafür: Notlagen sind unvorhersehbar und benötigt die Exekutive entsprechend grossen Ermessensspielraum. Daraus folgt aber auch, dass eine Notlage (eigentlich) nur zurückhaltend anzunehmen ist, führt Notrecht doch per definitionem immer (!) zu einer Umgehung des Parlaments als Legislative.

Diese Grundsätze scheinen in den letzten zwei Jahren im Zuge des tagespolitischen Aktivismus indessen in Vergessenheit geraten zu sein. Nahezu sehnsüchtig warteten selbst gestandene Wirtschaftsleute auf den Livestream der bundesrätlichen Pressekonferenzen, teils in der Hoffnung, dass der Bundesrat ihnen betriebliche Entscheide abnehme, die sie selber nicht fällen wollten; schliesslich ist es einfach, darauf zu verweisen, eine andere Autorität habe etwas beschlossen und man sei «halt daran gebunden» – was so natürlich nicht stimmt, steht die Verfassung doch nach wie vor über der Verordnung, aber was kümmert das schon die PR-Abteilung? Diese – in Kants Worten – selbstverschuldete Unmündigkeit ist es denn auch, der wir zu «verdanken» haben, dass die Hemmschwelle für den Griff zum Notrecht offensichtlich signifikant gesunken ist. Trägheit und die naive Annahme, der Staat könne die eigenen Probleme besser lösen als man selbst, lassen grüssen.

Kommt es zum Ukraine-Krieg, beschliesst der Bundesrat Sanktionen – unmittelbar gestützt auf die Bundesverfassung und teils das Embargogesetz. Obschon keine akute Notlage für die (nicht unmittelbar kriegsbetroffene) Schweiz besteht und überdies auch das Parlament mit Dringlichkeitsbeschluss Gesetze per sofort, d.h. ohne Abwarten der Referendumsfrist, in Kraft setzen könnte, befand es der Bundesrat nicht für nötig, das Parlament jene hochpolitischen Entscheide treffen zu lassen. Sodann Affenpocken: Pink Cross fordert vom Bundesrat die Ausrufung der besonderen Lage, wobei es nicht einer gewissen Logik entbehrt, dass genau jene Organisation, die für LGBT-Rechte kämpft, nun vom Bundesrat ein starkes Handeln fordert. Ist man sich nicht bewusst, dass dies auch massive Eingriffe in die sexuelle Privatsphäre zur Folge haben könnte (Stichwort Contact Tracing) oder tut man nur so? Immerhin hat der Bundesrat bislang jener Bitte nicht entsprochen. Erst diese Woche in Aussicht gestellt hat uns der Bundesrat indes Notverordnungen im Hinblick auf eine Gasmangellage im kommenden Winter. Ebenso diskutiert werden Massnahmen zur Sicherstellung einer genügenden Stromversorgung – wobei immerhin Greta von der Bildfläche verschwindet, zumal niemand mehr ernsthaft behaupten kann, es sei wahnsinnig sinnvoll, CO₂-Emissionen reduzieren zu wollen (das Wegkommen von fossilen Brennstoffen ist angesichts der Endlichkeit der Ressourcen an sich kein unberechtigtes Anliegen), zugleich aber den Bau neuer AKW zu torpedieren. Abgesehen davon, dass die Inhaltsstoffe von Solarpanels und sog. erneuerbaren Energien ebenfalls alles andere als nachhaltig sind. Während also die ukraine-kriegsbedingte Gasknappheit tatsächlich nicht vorhersehbar war, kann beim Strom davon keine Rede sein. Was aber bei pflichtgemässer Sorgfalt vorhersehbar war, kann nicht ernsthaft Gegenstand einer Notlage sein, jedenfalls nicht einer solchen, die den Erlass von Notrecht rechtfertigt. Nicht ohne Grund verlangt das Bundesgericht im Anwendungsbereich der polizeilichen Generalklausel auch, dass eine Gefahr nicht vorhersehbar ist, denn andernfalls wäre es ja durchaus möglich, mit einer genügenden gesetzlichen Grundlage vorzusorgen (BGE 147 I 161, E. 5.1). Mit der Forderung nach der Ausrufung einer Energienotlage ist nun jedenfalls auch die – in Covid-Fragen noch solide – SVP in die Notrechtsfalle getappt. Denn die Ausrufung einer Notlage zu fordern, um die Umweltpolitik von Linksgrün zu kritisieren, ist nicht rechtsstaatlich, sondern Schaumschlägerei – und es zeigt, wie weit verbreitet der Etatismus auch in der SVP ist.

Um die Abwärtsspirale des Notrechts zu verlassen, braucht es eine klare Rückbesinnung auf die angeborenen Naturrechte jedes Einzelnen. Entschärft werden könnte die Problematik zudem durch einen Ausbau der rechtlichen Überprüfungsmöglichkeiten. Aktuell können nämlich nur kantonale Notverordnungen direkt vor Gericht angefochten werden. Bei nationalen Notverordnungen muss man stets einen konkreten Anwendungsfall abwarten, bis man – und dann erst noch über mehrere Instanzen – sich rechtlich zur Wehr setzen kann. Die Einführung eines Beschwerdeverfahrens gegen bundesrätliche Notverordnungen könnte Abhilfe schaffen. Die notrechtsbedingte Ausschaltung des Parlaments würde so durch eine Stärkung der gerichtlichen Kontrolle aufgefangen, was nicht bloss repressiv, sondern auch präventiv wirken dürfte. Denn weiss der Bundesrat, dass seine Entscheide gerichtlich rascher gekippt werden können, überbordet er im Optimalfall auch weniger.

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Autor/in
Artur Terekhov

MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.

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