Unser Beitrag der letzten Woche hat viele Reaktionen ausgelöst. Lob, aber auch Kritik – wie es sich gehört. Die Kritik betraf oft den Punkt, es sei einfach, zu kritisieren. Und welches denn unsere Lösungsvorschläge wären.
Zum ursprünglichen Beitrag von Huber & Senn.
Tun wir gern. Und knüpfen an dem an, was wir schon geschrieben hatten. Zunächst müssen wir uns über die Zielsetzung eines Krisenmanagements klar werden. Wir wollen (in unserem Szenario) nicht die Pandemie stoppen, sondern verfolgen primär drei Ziele: 1.) die Risikogruppen bestmöglich schützen. 2.) Die Kapazitäten im Gesundheitswesen nicht überfordern und das 3.) beim gleichzeitigen Schutz der wirtschaftlichen Existenz möglichst vieler Menschen.
Dann noch zwei Prämissen, bevor wir konkret werden:
Prämisse 1: Krisenmanagement muss das grosse Bild sehen und kann nicht auf jedes Einzelschicksal berücksichtigen. Ja, das ist bisweilen brutal. Aber eben das Wesen einer jeden Krise: Jede Krise hat ihren Preis. Es ist unser Bestreben, diesen möglichst tief zu halten, aber es geht nicht, ohne dass wir Opfer bringen müssen. Die Summe dessen, was wir opfern, soll möglichst tief sein.
Prämisse 2: Der Appell an Solidarität und Selbstverantwortung ist ok, die Situation zeigt aber, dass viele Menschen sich nach Führung und Leadership sehnen in Krisensituationen. Viele in unserer Gesellschaft sind überfordert, für sich selbst zu entscheiden.
Und damit zu unseren konkreten Vorschlägen – im Sinne eines Diskussionsbeitrags und im Wissen darum, dass der Teufel im Detail steckt und es den Rahmen unserer Kolumne sprengen würde, alle Vorschläge bis in jedes Detail auszuführen. Und natürlich werden wir auch nicht auf jedes Detail eine Antwort haben. Solche müssten in der weiteren Ausführung ausgearbeitet werden – wie es dem klassischen Stabsarbeitsmodell entspricht.
Als Grundlage bilden wir vier Bevölkerungssegmente. Ein erstes bildet die Risikogruppe 1. Ihr gehören alle Menschen ab einem bestimmten Alter an. Wir ziehen die Grenze bei 70 Jahren. Warum? Die Todesfallstatistik zeigt, dass rund 90 Prozent der an oder mit Corona-Verstorbenen 70 Jahre oder älter waren. Mit anderen Worten: Diese Menschen sind die verwundbarsten und brauchen den grössten Schutz. Wir stellen sie deshalb unter Quarantäne.
Ja, das ist eine Freiheitseinschränkung. Und ja, das trägt das Risiko mit sich, dass es für Menschen einsam wird. Dafür können flankierende Massnahmen getroffen werden. Zivildienstleistende könnten eingesetzt werden, um täglich mit Menschen dieser Risikogruppe zu telefonieren, die sonst keine Sozialkontakte haben. Und ja, wir wissen auch um den Appell von alt-Bundesrätin Widmer-Schlumpf, die am letzten Sonntag noch verlangt hatte, die Altersheime dürften nicht wieder geschlossen werden wie im Frühling. Nun, das Resultat dieser Forderungen sehen wir bereits: Wir haben am Freitag von mindestens zwei Altersheimen allein in der Ostschweiz erfahren, bei denen Menschen positiv getestet worden waren, weil das Virus eingeschleppt wurde. In beiden herrscht jetzt Quarantäne.
Wir haben auch absolut kein Verständnis für die Forderung von Ethikgremien, auch den älteren Menschen müssten Besuche erlaubt werden. Was dabei passiert, zeigen die beiden Altersheim- Beispiele. Eine Krise zu bewältigen, heisst, Opfer zu bringen. Die Isolation zur eigenen Sicherheit erscheint uns in der Interessensabwägung tragbar, wenn auf der anderen Seite Menschen stehen, die ihr Leben oder ihre wirtschaftliche Existenz verlieren könnten.
Allenfalls zu prüfen wäre, den Risikopatient/innen 1 zum Beispiel einzuräumen, dass sie sich selbst aus der Risikogruppe herausnehmen können, falls sie das wünschen. – Damit im Gegenzug aber das Anrecht auf intensivmedizinische Betreuung verlieren, falls die Kapazitäten nicht mehr ausreichen. Eine solche Regelung hilft, dass beispielsweise Personen, die an ihrem Lebensende stehen und ihre letzten Monate nicht isoliert sein mögen, auf eigenes Risiko, aber selbstbestimmt, weiterhin mehr Kontakt mit anderen Menschen haben können.
Ein zweites Bevölkerungssegment in unserem Massnahmenplan ist die Risikogruppe 2. Das sind alle Menschen, die nicht in Risikogruppe 1 gehören, aber aufgrund von Vorerkrankungen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf haben. Sie können sich von ihrem Arzt aufgrund der Vorerkrankungen in diese Risikogruppen einteilen lassen. Die Menschen in Risikogruppe 2 werden ebenfalls besonders geschützt. Sie haben die Verpflichtung, aber auch das Recht, aus dem Home-Office zu arbeiten: Die Arbeitgeber müssen das allen zugestehen, die grundsätzlich ihre Tätigkeit aus dem Home-Office betreiben können. Für den Metzger, der nicht zuhause schlachten kann, muss der Arbeitgeber entweder garantieren können, dass die Distanzregeln und Hygienemassnahmen jederzeit eingehalten werden. Kann er das nicht, bleiben die Menschen der Risikogruppe 2 zuhause in Quarantäne und gehen nicht arbeiten. Sie werden entschädigt, wie wenn sie in Kurzarbeit wären, müssen sich aber ihre Ferien an die Quarantänezeit anrechnen lassen.
Das dritte Bevölkerungssegment sind die Menschen mit systemrelevanten Berufen. Zu ihnen gehören alle, die nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer der beiden Risikogruppen in Quarantäne sind und gleichzeitig einen Beruf ausüben, der zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens notwendig sind. Dazu gehören die Güselmänner genauso wie die Ärzte und das Pflegefachpersonal, die Mitarbeiter in der Lebensmittelversorgung, die Polizei, Tramchaffeusen und Lokführerinnen usw. Sie sind nicht besonders gefährdet, um aber sicherzustellen, dass die Kapazitäten aufrechterhalten werden können, werden sie ebenfalls besonders geschützt. Dazu gehört, dass sie ausserhalb ihrer beruflichen Tätigkeit ebenfalls zuhause bleiben und sich bestmöglich isolieren müssen.
Für die beiden Risikogruppen und die Systemrelevanten gibt es nebst den Einschränkungen auch Erleichterungen. Beispielsweise könnte geprüft werden, ob die Risiko-Gruppe 2 und die Systemrelevanten in Hotelzimmern leben können, falls Familienmitglieder positiv sind und sie sich nicht zuhause anstecken wollen. Damit könnten Hotels ihre Zimmer belegen und müssten nicht in Konkurs gehen.
Das vierte und letzte Bevölkerungssegment bilden alle Menschen, die zu keiner der vorgenannten Gruppen gehören. Für sie gelten die bisherigen Distanz-, Hygiene- und Maskenregeln, aber keine weiteren Einschränkungen. Sie sollen auch nach 2300 Uhr noch ein Bier trinken können im Restaurant oder einen Kinofilm anschauen, wenn im Saal mehr als 50 Personen sind.
Natürlich ist uns bewusst, dass diese Vorschläge viele «Abers» provozieren. Zunächst wird man uns vorwerfen, solche Massnahmen liessen sich nicht lange durchhalten. Das ist grundsätzlich richtig. Unser Ziel ist denn auch, die Anzahl schwerer Erkrankungen bei den grössten Risikogruppen schnell senken zu können. Wenn das gelingt, kann das Regime langsam gelockert werden. – Beispielsweise, indem den Menschen in den Alters- und Pflegeheimen dann ermöglicht wird, Besuche zu empfangen, wie das der Kanton St. Gallen letzte Woche verfügt hatte. Wir halten die St. Galler Massnahme für gut, aber eben erst, wenn wir bei der Risikogruppe 1 weniger Fälle haben.
Und selbstverständlich wird man uns vorwerfen, es sei nicht solidarisch, einseitig nur die Risikopatient/innen in die Pflicht zu nehmen. Gegenfrage: Und wer ist dann mit denjenigen solidarisch, die durch die Giesskannen-Massnahmen ihre Existenz verlieren? Wir schliessen deshalb mit demselben Satz wie vor einer Woche: Solidarität ist gut und wichtig, aber man sollte sie nicht überstrapazieren.
Ein letzter Punkt: Ein kritischer Leser bemerkte letzte Woche, unsere Sprache in dieser Kolumne entspreche nicht der Vorsicht und Zurückhaltung, mit der in der Krise kommuniziert werden müsse. Er hat Recht. Wir schreiben hier aber auch nicht in der Rolle als Verantwortliche für Krisenkommunikation, sondern als kritische Beobachter. Und das ist nicht dasselbe. Unsere Anmerkungen zu Krisenmanagement- und -kommunikation der Behörden schreiben wir als unabhängige Kolumnisten und nicht als Berater. Denn als solche würden wir gar nichts schreiben, sondern eben die Entscheidungsträger beraten. Im Hintergrund.
Berater, die über ihre eigenen öffentlichen Auftritte zuerst Druck auf ihren Auftraggeber machen und dann im nächsten Schritt den Auftraggeber öffentlich kritisieren, wenn er nicht nach ihrem Gusto entschieden hat, halten wir für genau so verfehlt wie Wissenschafter, die ihre eigenen politischen Forderungen und Überzeugungen in die Öffentlichkeit tragen statt einfach nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu zitieren. Da geht es auch nicht um die Wissenschaftsfreiheit, wie dann zur Rechtfertigung gerne behauptet wird, sondern um das Rollenverständnis und Redlichkeit. Und da liegt einiges im Argen bei der sogenannten wissenschaftlichen Task Force des Bundesrats. Dieser sollte die Grösse haben, den 60 Mitgliedern klar zu machen: Entweder seid ihr unsere Berater, oder aber verdingt Euch als Experten in den Medien. Beides zur selben Zeit geht nicht.
Roger Huber (1964) und Patrick Senn (1969) sind ehemalige Ostschweizer Journalisten, die lange Jahre bei nationalen Medientiteln gearbeitet haben. Heute unterstützen Sie Organisationen und Führungskräfte in der Krisenkommunikation und sind Gründungsmitglieder des Verbandes für Krisenkommunikation vkk.
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