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Der Bundesrat und seine unterschiedlichen Ellen

Die seltsamen Grenzen der Kollegialität

Bundesrat Ueli Maurer verzichtet dankend auf die zweite Impfung und wird dafür schweizweit von Medien abgewatscht. Bundespräsident Guy Parmelin sagt öffentlich ziemlich ungeheuerliche Dinge – und keinen interessierts. Die irre Welt des Kollegialitätsprinzips.

Stefan Millius am 22. Februar 2021

Es ist nicht anzunehmen, dass eine durchschnittliche Regierung aus lauter Kolleginnen und Kollegen besteht. Noch viel weniger durchgehend aus echten Freundschaften. Einige mögen sich richtig gut, andere weniger, wieder andere können sich gegenseitig nur mit viel Mühe ertragen. So ist es überall, wo Leute zusammenkommen, die sich den Kreis nicht selbst ausgesucht haben, sondern zusammengewürfelt wurden. Obs nun fünf oder 50 Leute sind.

Oder eben sieben.

Der Bundesrat, so uneins man sich vermutlich oft ist, spricht gegen aussen mit einer Zunge. Getreu dem Kollegialitätsprinzip, diesem edel klingenden Wort, das im Grunde nur ein Maulkorb ist. Es besagt, dass nach ausgefochtener Schlacht und einer Mehrheit danach alle diese obsiegende Meinung gegen aussen vertreten, um nicht gespalten zu wirken. Deshalb erlebt man SP-Bundesräte, die mit stoischer Miene eine wirtschaftsfreundliche Vorlage vertreten und SVP-Bundesräte, die plötzlich in Interviews irgendwelche utopischen Klimaziele für absolut notwendig halten.

Es ist im Grund eine einzige Scharade. Aber immerhin hat sie Tradition.

Und das wortwörtlich. Das Beschriebene ist nämlich keineswegs ein Gesetz, obwohl es manchmal so dargestellt wird. Es ist mehr ein Brauchtum. Die Bundesverfassung hält lediglich fest, dass der Bundesrat als Kollegium entscheidet, dass also die Mehrheit sagt, was läuft. Was danach geschieht, eben das sogenannte Kollegialitätsprinzip, ist eine lieb gewonnene Gewohnheit, mehr nicht. Muss sich ein Regierungsmitglied mal zu sehr verbiegen, um die Mehrheitsmeinung offensiv zu vertreten, sieht man ihm das ausnahmsweise nach, aber in aller Regel wird nach einem Drehbuch gespielt, das jeder durchschaut.

In Coronazeiten ist es nicht anders. Man erkennt im Prinzip die Linien, die durch den Bundesrat verlaufen, man kann sich grob vorstellen, wie ein bestimmter Bundesrat im privaten Kreis darüber sprechen würde, auch wenn es beim offiziellen Auftritt ganz anders klingt. Was die veröffentlichte Meinung angeht, ist die Landesregierung ziemlich homogen. Aber einzelne nützen kleine Ausscherer, um anzudeuten, was sie vom Ganzen halten.

Das kann man übrigens sogar tun, ohne das Kollegialitätsprinzip zu ritzen. Ganz einfach, indem man ein Thema wählt, zu dem es keinen oder noch keinen offiziellen Bundesratsentscheid gibt, den man damit «verletzen» könnte.

Zum Beispiel bei der Impfung. Die Landesregierung lässt keinen Zweifel daran, dass sie diese für absolut unersetzlich hält, um zur Normalität zurückzukehren, was auch immer man darunter verstehen mag. Deshalb müssen auch Magistraten als Posterboys und -girls dienen, um zu zeigen, dass sie die Impfung erstens für wichtig und zweitens für ungefährlich halten. Zum Beispiel, indem sie sich selbst die Spritze geben lassen.

Auch SVP-Bundesrat und Finanzchef Ueli Maurer hielt brav den Arm hin, verkündete dann vor wenigen Tagen aber medienwirksam, eine zweite Ladung brauche er nicht, weil er «zäh» sei. Was für ein Affront gegenüber der Impfkampagnenfront, da es ja bekanntlich eine zweite Dosis braucht, damit der gewünschte Effekt eintritt. Sagt ein Regierungsmitglied, er sei stark gebaut und brauche nur eine, könnten ja die Uelis dieser Schweiz auf die gleiche Idee kommen. Es ist ein herber Rückschlag.

Task-Force-Mitglieder, aktuelle und ehemalige, fielen vermutlich reihenweise in Ohnmacht nach dem Maurer-Bonmot, aber natürlich erst, nachdem sie auf Twitter einen Tobsuchtsanfall losgeworden waren. Da redet man sich monatelang den Mund fusslig, und dann kommt ein ein ehemaliger Geschäftsführer eines Bauernverbands und torpediert alle Bemühungen mit einer einzigen Bemerkung. Auch die Medien griffen die breite Kritik an Maurers Worten sofort auf. Wie immer waren sie sichtlich bemüht, sich ihr eigenes Entsetzen darüber nicht anmerken zu lassen, aber wenn man auf ein Sätzchen hin reihenweise die Aufschreie anderer aufführt, sagt das schon genug.

Aber nun der Gegenentwurf. Maurers Parteikollege Guy Parmelin, der das Pech hat, aktuell Bundespräsident zu sein, hat auch etwas gesagt. Und zwar, dass er Privilegien für geimpfte Leute total in Ordnung findet. Privileg ist ein hübsches Wort, es ist positiv besetzt, aber in Wahrheit geht es nicht darum, dass Geimpfte etwas Besonderes tun dürfen sollen. Sondern dass sie – im Unterschied zu nicht Geimpften –einfach weiterhin das tun dürfen, was früher alle konnten. Sprich: Sie erhalten keine Privilegien, sondern man nimmt allen anderen etwas weg. Beispielsweise das Recht, in ein Flugzeug zu steigen oder ein Festival zu besuchen.

Parmelin, ganz der wirtschaftsfreundliche SVP-Mann, schob natürlich sofort nach, dass das das Recht von privaten Veranstaltern sei und er da niemandem reinreden könne. Und machte diese Relativierung gleich wieder kaputt, indem er sagte, wie er das im öffentlichen Bereich regeln würde, also dem, bei dem der Bundesrat das Sagen hat. Beschlossen sei noch nichts, so der Westschweizer, aber er würde «das Sicherheitsinteresse hoch gewichten.»

Man kann und soll das übersetzen: Parmelin ist bereit dazu, Leuten, die sich nicht impfen lassen, handfeste Nachteile zu bescheren. Ganz konkret träumt er bereits von einer «Maskenpflicht für Nichtgeimpfte im öffentlichen Verkehr». Um das durchzusetzen beziehungsweise zu kontrollieren, müssen sich Geimpfte ausweisen, und wer das nicht tun kann, muss es allen erkennbar machen durch ein Stück Papier oder Stoff im Gesicht. Es ist beim näheren Hinsehen ein ziemlich ekelhafter Gedanke.

Aber anders als bei Ueli Maurer, der nur einen persönlichen Entscheid traf mit dem Verzicht auf die zweite Impfung, wurde Guy Parmelin in den Medien mit Samthandschuhen angefasst. Seine Aussage wurde im Sinn von «wir habens protokolliert» weitergegeben, entrüstet war kaum ein Journalist.  Dabei hatte der Bundespräsident gerade einer faktischen Impfpflicht das Wort geredet. Das Recht von privaten Veranstaltern hin oder her: Wer Nichtgeimpften das Fliegen und die Kultur unmöglich macht und damit den Weg ebnet zu weiteren Einschränkungen bis hin zur Gastronomie, der geht weit, sehr weit. Viel weiter, als der Bundesrat als Kollektiv sich bisher vorgetraut hat.

Aber eben, da es keinen Entscheid gab bisher in dieser Frage, ist das Kollegialitätsprinzip unangetastet geblieben. Es wurde einfach die Tonalität für die Zukunft festgesetzt. Aufgrund der ausbleibenden Reaktion der breiten Öffentlichkeit auf Parmelins Aussage hin darf der Bundesrat davon ausgehen, dass er in diese Richtung weitermarschieren kann. Der Versuchsballon hat erfolgreich abgehoben. Während Ueli Maurers persönliche Impfdosen-Sparaktion in diversen Zeitungen als verantwortungslos gebrandmarkt wurde.

Viele Massnahmenkritiker haben ja 2020 befürchtet, dass das alles 2021 noch so weitergehen könnte. Sie lagen falsch. 2021 könnte noch um einiges wilder werden.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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